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# taz.de -- Solidarität in der Pandemie: Egoismus als Grundrecht
> Ob Stuttgart 21 oder Wehrpflicht – Staatsräson ging stets vor
> Bürgerunmut. Warum reagiert die Politik heute so zaghaft auf Proteste von
> Impfgegnern?
Bild: Polizist*innen bei einer Demonstration von Coronaleugner*innen in Berlin …
Was hat die Impfpflicht mit Stuttgart 21 zu tun? Mehr, als ein
oberflächlicher Blick vermuten ließe. In Stuttgart, der Stadt, in der ich
Steuern zahle, war eine Mehrheit der Bürgerinnen gegen ein Mammutprojekt,
dessen Kosten sich inzwischen vervierfacht haben und das laut
Whistleblowern schon [1][ein Korruptionsvolumen von 600 Millionen Euro]
aufweist. Jahrelang äußerten sich mehr als sechzig Prozent gegen das
Bauvorhaben.
Doch keiner der Mächtigen sprach sich dafür aus, diese Menschen
„abzuholen“. Die Stadt war gespalten, aber kein Verantwortlicher zerbrach
sich den Kopf über eine drohende Spaltung der Gesellschaft. Zehntausende
protestierten, immer wieder, doch niemand fürchtete sich davor, dass die
Gegner „auf die Barrikaden gehen“ würden. Ganz anders nun die politische
Haltung gegenüber [2][Impfskeptikern und -verweigerern]. Damals Hybris,
heute Verständnis.
Nicht nur bei Stuttgart 21. Zeitweise waren zwei Drittel der Deutschen
gegen den Krieg in Afghanistan. Es gab immer wieder gewaltige
Friedensdemonstrationen. Die damalige Antwort: Staatsräson geht vor. Ob im
Hambacher Forst, in Gorleben, bei der Startbahn West, stets wurde der
Protest negiert und ignoriert, weil angeblich ein höheres Interesse
existierte (Fortschritt, Investition, Mobilität). Und nun? Eine geradezu
gegenteilige Gewichtung durch die Politik. Vorsicht und Zaghaftigkeit.
Sollte etwa unser aller Gesundheit weniger wichtig sein als Krieg oder gut
geölter Kapitalismus?
Was ist geschehen? Gibt es neue Grundrechte oder eine veränderte
Verfassung? War [3][die Wehrpflicht], um nur ein Beispiel zu nehmen, kein
Eingriff in die persönliche Autonomie (ich persönlich finde, dass zwölf
oder fünfzehn Monate des eigenen Lebens ein erheblich größeres Opfer
darstellen als eine medizinische Behandlung, die zudem auch der eigenen
Gesundheit dient)?
Geändert hat sich allein die Stimmungslage, zugunsten eines einzigen
Grundrechts, das alle anderen übertrumpft, eine Art Übergrundrecht: das
Recht auf Egoismus. Die Folge einer ideologischen Zurichtung, die seit
Jahrzehnten kontinuierlich Gesellschaft abbaut und Individualismus
aufbläht. Von der Ich-AG zum Narzissten. Gemeinwohl war gestern, heute gilt
das eigene Wohlbefinden. Und Freiheit ist nur noch ein anderes Wort für
Bequemlichkeit.
Diese Entwicklung ist so tiefgreifend, dass selbst die Rechten, die
traditionell alles dem nationalen Wohl unterordnen wollen, mit Recht und
Ordnung und Disziplin, sich von ihren einstigen Vorstellungen eines
„gesunden Volkskörpers“ verabschiedet haben und nur mehr das Recht der
Deutschen verteidigen, sich nicht piksen zu lassen. Nein, wir sind nicht zu
sensibel geworden, wie manche dieser Tage behaupten, ganz im Gegenteil, wir
haben von Kopf bis Fuß eine dicke soziale Hornhaut ausgebildet.
Es ist auffällig, wie selten (wenn überhaupt) folgendes Argument zu
vernehmen ist: Ich habe Bedenken, was die Impfung angeht, aber ich sehe
ein, dass wir als Gesellschaft aus der Pandemie nur herauskommen, wenn die
allermeisten geimpft sind, ergo werde ich mich trotzdem impfen lassen. Ein
Taxifahrer in Köln brachte es neulich auf den Punkt. Auf die Vision eines
Fahrgastes, alle Geimpften würden in zwei Jahren tot sein, habe er
geantwortet: „Was machst du dann hier allein?“
Was in Talkshows gegen eine Impfpflicht vorgetragen wird, sind
Mummenschanz-Argumente mit viel Rhetorik und wenig Logik. Sie befriedigen
die eigene Gefühlslage, nicht die Vernunft. In Krisenzeiten sind sie
vermehrt anzutreffen, auch bei vermeintlich intelligenten Menschen.
Ein sozial orientiertes Gemeinwesen würde alle impfen lassen (bis auf
wenige medizinisch indizierte Ausnahmen), würde massiv investieren in jene,
die gegen die Pandemie kämpfen, und dafür sorgen, dass weltweit, vor allem
im globalen Süden, alle Menschen möglichst kostenlosen Zugang zu den
Impfstoffen erhalten. Letzteres wäre leicht zu erreichen, wenn der
Patentschutz für die Impfstoffe vorübergehend aufgehoben würde, wie
vernünftige Menschen seit dem letzten Frühjahr fordern, was aber am
Widerstand der EU scheitert. Europa – ein Haus für Egomanen.
Es ist bekannt, dass die Blüten der Freiheit auch am Ufer des Egoismus
sprießen. Wer auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen möchte, beschwört
gern die individuelle Autonomie. Das ist ein Problem, weil zwischen
Freiheitsliebenden und Selbstsüchtigen nicht immer klar zu unterscheiden
ist. Gegenwärtig aber ist diese Unterscheidung einfach. Die Pandemie frisst
Zeit, Energie, Geduld, Nerven, Liebe, Kreativität. Sie ist die größte
Bedrohung unserer Freiheit. Sie zu besiegen hat eindeutig Vorrang vor dem
Recht auf Ignoranz oder Narzissmus.
Es ist traurig, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der soziales
Verhalten manchen Mitmenschen aufgezwungen werden muss. Viel zu viele
benötigen offenbar die Peitsche der Obrigkeit, um sich im Sinne des
Gemeinwohls zu verhalten. Vor wenigen Tagen erst wurde ein
Urlaubsrückkehrer aus Südafrika am Flughafen von einem Fernsehteam
interviewt. Die Quarantäne aufgrund der Omikron-Gefahr sei nur eine
Empfehlung, aber keine Verpflichtung, also werde er sich nicht daran
halten. So spricht ein Untertan, der nur die Sprache der Verbote versteht,
und kein aufgeklärter Mensch, der sich Gedanken macht, wie er die
potentielle Gefahr, die von ihm ausgeht, minimieren könnte. So spricht ein
amoralischer Mensch. Denn Ethik beginnt dort, wo die Verkehrszeichen enden.
Aber da selbstverantwortliche Ethik offensichtlich von einem knappen
Drittel des Volkes nicht verstanden wird, müssen wir uns in einer Art
gesamtgesellschaftlicher Notwehr schützen. Wären wir eine freie
Gesellschaft, in der alle die Selbstentfaltung der Mitmenschen mitbedenken,
müssten wir dieser Tage nicht über eine Impfpflicht diskutieren.
1 Dec 2021
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## AUTOREN
Ilija Trojanow
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