# taz.de -- Bewegungstermine in Berlin: Deutschland, ein Ego-Albtraum | |
> In der Pandemie hat sich ein egoistischer Freiheitsbegriff durchgesetzt. | |
> Auch ein Grund für die neuen Rechten, gegen die am Samstag protestiert | |
> wird. | |
Bild: Vor vier Jahren: Kritiker von Coronamaßnahmen versuchen Hand in Hand mit… | |
Es ist der Versuch eines Comebacks, auf das wirklich niemand gewartet hat: | |
Aus den Überbleibseln der Corona-Bewegung [1][wird am kommenden Samstag | |
unter dem Motto „Gemeinsam für Deutschland“ bundesweit zum Protest | |
aufgerufen]. Erinnern Sie sich noch? Die Corona-Bewegung, das waren | |
Menschen wie der Berliner Verschwörungsideologe Michael Bründel, genannt | |
Captain Future, der im Superheldenkostüm in der Polonaise zu „Ein bisschen | |
Sars muss sein“ tanzte. Das waren Menschen, die sich Judensterne | |
anhefteten, weil sie eine Maske tragen mussten und sich impfen lassen | |
sollten. | |
Heute wird aus diesem Milieu etwa für „flächendeckende Grenzkontrollen“ u… | |
den „Schutz der Bevölkerung“ (wahrscheinlich vor den migrantischen Horden?) | |
auf die Straße gerufen. Zu einer ersten Demo am 22. März erschienen Antifas | |
zufolge bundesweit erstaunlich viele Neonazis. [2][Antifa-Gruppen warnen | |
deshalb]: „Was vor zwei Monaten noch aus einem etwas verwirrten | |
Querdenken-Spektrum zu kommen schien, muss man spätestens nach dem 22. März | |
beim Namen nennen: Naziaufmärsche“. | |
Okay, dass Nazis zu Querdenken-Demos erscheinen und dort mit offenen Armen | |
empfangen werden, ist nun nichts Neues – man denke etwa an die Bilder des | |
Sturms der Reichstagstreppen im August 2020. Aber was ist das eigentlich | |
für eine merkwürdige Symbiose? Warum können diejenigen, die seit 2020 gegen | |
jegliche Einschränkung ihrer persönlichen Autonomie auf die Straße gehen, | |
eigentlich so gut mit den Reichsflaggen-schwenkenden Neonazis, die von | |
ihnen immerhin die völlige Unterordnung unter die Nation abverlangen? | |
## Der Rechtsdrift von Querdenken | |
Wie wäre es mit folgendem Erklärungsversuch: Die Coronapandemie war in | |
erster Linie ein globales und nur kollektiv zu lösendes Problem. Das Virus | |
verbreitete sich aber in kapitalistischen Gesellschaften, die gerade 50 | |
Jahre neoliberalen Staats- und Gesellschaftsumbau hinter sich hatten. Und | |
im Neoliberalismus sollte es bekanntlich so etwas wie Kollektivität gar | |
nicht mehr geben: „There is no such thing as society“, hatte Margaret | |
Thatcher berühmterweise gesagt. | |
Über Jahrzehnte hatte man also versucht, die Menschen zu reinen Ich-AGs | |
umzuerziehen, ihnen jegliche Solidarität auszutreiben, sie zu perfekten | |
Exemplaren des Homo economicus zu machen, der nur seinen eigenen Vorteil | |
kennt. Im Zuge dieses Prozesses ist auch der Freiheitsbegriff von einem | |
Verständnis à la Immanuel Kant (Wie müssen wir handeln, damit sich alle | |
möglichst frei entfalten können?) hin zu einem „Ich darf machen, was ich | |
will“ degeneriert. | |
Die erste Reaktion der neoliberalisierten Menschen bestand also darin: sich | |
zu verweigern, in jeder Einschränkung schon die Diktatur zu erspähen. Wenn | |
Linke in der Pandemie autoritäre Tendenzen (Ausweitung der | |
Überwachungsapparate), Korruption (Maskendeals) oder Ungleichheit (die | |
globale Verteilung der Impfstoffe) kritisierten, griff das nicht, weil dies | |
eine Strukturkritik war, die nicht grundsätzlich die Notwendigkeit zum | |
kollektiven Handeln in der Pandemie leugnete. | |
## Auftritt: Die Neonazis | |
Doch mit der neoliberalen Zerstörung der Kollektivität ist es so eine | |
Sache: sie kann nicht gelingen. Menschen sind soziale Wesen, der Wunsch | |
nach Gemeinschaft, nach Solidarität, ist tief in unserer DNA verwurzelt – | |
nur zusammen konnten wir als Spezies schließlich überleben. Da, wo die | |
inklusive Gesellschaft verloren scheint, wächst deshalb auch der Bedarf | |
nach einer „Ersatzgemeinschaft“ – die am besten auch noch eine Erklärung | |
liefert für das eigene Gefühl der Wertlosigkeit, der Unterdrückung, der | |
Erniedrigung. | |
Im Neoliberalismus wurden Institutionen der Solidarität wie Gewerkschaften | |
oder Sozialstaat attackiert und vernichtet – in Ostdeutschland noch einmal | |
mit wesentlich größerer Brutalität. Jobverlust, Wohnungsnot und | |
Unsicherheit im Alter waren die Folgen. Das Vertrauen der Menschen wurden | |
erschüttert, gleichzeitig wurde ihnen kommuniziert, sie selbst seien schuld | |
an der Misere, Armut ist schließlich nur ein Mindset. Das Problem musste | |
also entweder eines des individuellen Scheiterns sein – oder etwas | |
Externes, eines der „fremden“ Einflüsse. | |
Auftritt: die Neonazis. Mit der „Volksgemeinschaft“ haben sie ein | |
attraktives Angebot: Sie bieten Stolz, Zugehörigkeit und Schutz. Und sie | |
erklären die Probleme nicht in strukturellen Zusammenhängen, sondern | |
personalisiert auf bestimmte Personengruppen: Migrant:innen, „Globalisten“, | |
„die EU“, „linke Eliten“, „Gender-Ideologen“. Das Kollektiv schläg… | |
zurück, dieses Mal jedoch als Fiebertraum, der die Entledigung all jener | |
erforderlich macht, die dem Kollektiv im Weg stehen. | |
## Antifa bleibt notwendig | |
Nicht alle machen diese Radikalisierungsprozesse bis zum Ende mit. Aber so | |
ist eben zu erklären, dass einige der Maskenpflicht-ist-Faschismus-Fraktion | |
plötzlich keine Probleme mehr sehen, wenn neben ihnen wirkliche | |
Faschist:innen stehen. Was man dagegen tun kann? Nun, in erster Linie | |
Widerstand leisten. Was wieder bewiesen werden muss, ist Kraft der | |
Solidarität als emanzipatives Projekt. Und das geht nicht mit Worten, | |
sondern nur mit Taten. | |
Ein erster Schritt ist es, sich den Rechten entgegenzustellen, ihnen | |
deutlich zu machen, dass sie in Berlin-Mitte nicht willkommen sind. Die | |
Rechten rufen um 13 Uhr zum Neptunbrunnen am Alexanderplatz, Ecke Spandauer | |
Straße, auf. Von dort aus soll die Demo bis zum Potsdamer Platz und wieder | |
zurückziehen. | |
Der große Gegenprotest startet um 12:15 Uhr an der Südseite des S-Bahnhof | |
Friedrichsstraße. [3][Unter dem Motto „Berlin bleibt Antifa“] rufen | |
Initiativen wie Widersetzen, Aufstehen gegen Rassismus, die North East | |
Antifa und Geradedenken dazu auf, sich dem rechten Aufmarsch | |
entgegenzustellen. Der Protest zieht zum Neptunbrunnen, also zum | |
Auftaktsort der Rechten. Bei einer Zwischenkundgebung am Bebelplatz (13 | |
Uhr) gibt es jedoch die Möglichkeit, [4][sich einem Protest der Gruppe | |
Queermany anzuschließen], die stattdessen in Richtung Holocaust-Mahnmal, | |
russische Botschaft und Bundestag ziehen wird. | |
## Antifaschistische Pre- und Afterparties | |
Den Demoabend ausklingen lassen, lässt sich zum Beispiel beim [5][Riot | |
Grrrl Tresen in der Kneipe Kleinod] (Niemetzstraße 24). Da gibt es feinsten | |
Punk und Hardcore – sowie Infos zur bald beginnenden Pride-Saison in | |
Ostdeutschland. Nachdem es im vergangenen Jahr viele Naziangriffe auf | |
Pride-Paraden gegeben hat, sollen in diesem Jahr gemeinsame Anreisen und | |
die Unterstützung der Strukturen vor Ort besser organisiert werden. Los | |
geht es ab 20 Uhr. | |
Um den historischen Antifaschismus geht es bei der [6][Vorführung des Films | |
„Die Mörder sind unter uns“] am Sonntag (27.4.) im Regenbogenkino | |
(Lausitzer Str. 21a, 14 Uhr). Der Film wird vom VVN-BdA | |
Friedrichshain-Kreuzberg im Rahmen der Veranstaltungsreihe „8. Mai – | |
Befreiung, was sonst?“ gezeigt. Gedreht wurde er von Wolfgang Staudte im | |
Jahr 1946 in den Trümmern von Friedrichshain und Mitte, mit Hildegard Knef | |
in einer der Hauptrollen. Anschließend gibt es ein Gespräch über den Film. | |
Wer sich im Vorfeld der Proteste am Wochenende darüber informieren will, | |
welche Faschos am Samstag auftauchen könnten, kann dies schon am Donnerstag | |
(24. 4.) [7][beim Antifaschistischen Infotresen im Café Freiraum in der | |
Alice Salomon Hochschule] tun. Im Rahmen der Kritischen Einführungswochen | |
gibt es dort ab 17:30 Uhr bei kalten Getränken einen Vortrag über rechte | |
Vorfälle in Marzahn-Hellersdorf – und was dagegen getan werden kann. | |
Wer am Vorabend der Proteste (Freitag, 25. 4., Am Berl 13, 20 Uhr) | |
antifaschistische Strukturen mit ein bisschen Pogo unterstützen will, darf | |
gerne in Hohenschönhausen auf dem Solikonzert der Feminist Red und | |
Anarchist Skinheads für das dortige Offene Antifa Treffen erscheinen. Es | |
spielen [8][Produzenten der Froide] (Antifascist Oi! aus Stuttgart), | |
[9][Profilachse] (HC Punk), [10][BetterGut.Industries] ((Punkrock aus der | |
Platte) und [11][ROi!m- & StrOi!- FahrzOi!ge] (Oi! aus Hohenschönhausen). | |
23 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Verschwoerungsideologische-Demo/!6080506 | |
[2] https://www.waterkant-antifa.de/ | |
[3] https://www.instagram.com/p/DIeUBrbs24s/ | |
[4] https://www.instagram.com/queermany.berlin/p/DIrWm1gIsWT/?img_index=2 | |
[5] https://stressfaktor.squat.net/node/312691 | |
[6] https://stressfaktor.squat.net/node/312705 | |
[7] https://asanb.noblogs.org/?event=antifaschistischer-info-tresen | |
[8] https://www.instagram.com/produzentenderfroide/ | |
[9] https://www.instagram.com/profi.lachse/ | |
[10] https://www.instagram.com/bettergut.industries/ | |
[11] https://offtheradar.net/artist_2021/roim-stroi-fahrzoige/ | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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