# taz.de -- Migrationspolitik der Union: Brutal zurück | |
> Unionsfraktionschef Brinkhaus kritisiert die „brutale Offenheit im | |
> Bereich Migration“ der Ampelkoalition – und zeigt die Verzweiflung seiner | |
> Partei. | |
Bild: Kein Zurück in die Zeit der brennenden Migrantenhäuser: Pogrom von Rost… | |
Brutale Offenheit. Bei dieser Wortkombination handelt es sich um ein | |
Oxymoron. Der [1][gute alte Duden] sagt, der Name dieser rhetorischen Figur | |
bedeute „klugdumm“ und komme vom griechischen oxýs, was so viel bedeutet | |
wie „scharf, spitz, scharfsinnig“, und móros, was „einfältig, dumm“ h… | |
Das passt zu dem, was der Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus einen Tag | |
nach Vorstellung des Koalitionsvertrags im Deutschlandfunk-Interview über | |
die migrationspolitischen Ziele der Ampelkoalition gesagt hat: [2][„Wir | |
hätten sicherlich nicht diese brutale Offenheit im Bereich Migration | |
gehabt.“] | |
Warum haut Brinkhaus so früh am Morgen mit so widersprüchlichen | |
Konstruktionen um sich? Das neue Regierungsbündnis hat in finanz- und | |
sozialpolitischen Fragen zweifellos einen starken, dominanten Gelbstich. | |
Man muss aber auch feststellen, dass dieses progressiv-neoliberale Bündnis | |
in gesellschaftspolitischen Fragen Maßnahmen plant, [3][die mit der Union | |
nicht möglich waren]. | |
Der Paragraf 219a, der Ärztinnen und Ärzten verbietet, über sichere | |
Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, wird abgeschafft. Im Bereich | |
innere Sicherheit klingt es danach, als wolle die Ampelregierung das | |
angehen, was die Union mit Innenminister Horst Seehofer lange blockierte: | |
Sicherheitsbehörden sollen besser kontrolliert werden, etwa mit einem | |
unabhängigen Polizeibeauftragten, der Einsatz von V-Leuten soll | |
parlamentarisch nachvollziehbar werden. | |
Und auch in der Migrationspolitik sollen Dinge passieren, die mit der Union | |
selbst unter der ach so progressiven Angela Merkel nicht möglich gewesen | |
wären: Die Ampelkoalitionäre schreiben von mehr legalen Fluchtwegen, einer | |
Zusammenarbeit mit einer Koalition der Willigen, falls die Herausforderung | |
der Migration nicht auf EU-Ebene gelöst werden kann, wonach es derzeit | |
stark aussieht. Die neue Regierung will dafür eintreten, dass keine | |
Menschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass zivile Seenotrettung nicht | |
mehr behindert wird. Sie will Bleibeperspektiven schaffen, | |
Integrationskurse für alle, keine Arbeitsverbote, geduldete Azubis sollen | |
eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und der Zugang zum Arbeitsmarkt für | |
Migrant:innen grundsätzlich erleichtert werden. | |
Erwartbar zynisch | |
Natürlich müssen diese Vorsätze dann an Taten gemessen werden. Aber sie | |
liefern auch so schon eine Projektionsfläche für eine konservative Partei | |
auf Identitätssuche. Deshalb sind Brinkhaus’ Worte erwartbar zynisch: Man | |
denke bei der Wortkombination „brutale Offenheit“ einmal an die | |
gegenwärtige Situation vieler Menschen an der polnisch-belarussischen | |
Grenze. Und diese Worte klingen zynischer, wenn man bedenkt, dass auch ihr | |
Urheber weiß: Deutschland leidet unter Fachkräftemangel, ist ein Land, das | |
wegen seiner demografischen Entwicklung rein ökonomisch auf Migration | |
angewiesen ist. Die FDP, deren lautesten Akteure gern auf den Grenzen nach | |
Rechts balancieren, wenn es ihnen politisch opportun vorkommt, dürfte die | |
neue liberale Migrationspolitik deshalb nicht so sehr als Zugeständnis | |
empfinden. | |
Brinkhaus’ Worte, der in seiner Partei alles andere als ein rhetorischer | |
Hardliner ist, dienen nun also insgesamt als Indikator für den Grad der | |
Verzweiflung der konservativen Partei. Sie erfüllen somit ein weiteres | |
Kriterium für ein Oxymoron, nämlich, dass die Wendung, „die logisch | |
betrachtet zunächst einmal widersprüchlich“ sei, „bei näherer Betrachtung | |
und in bestimmten Zusammenhängen aber durchaus einen (Hinter)sinn“ | |
offenbare. Der „(Hinter)sinn“ von „brutale Offenheit im Bereich Migration… | |
lautet: Die Konservativen in Deutschland sind am Arsch und wissen nicht wie | |
weiter. | |
Manche sehen in Friedrich Merz die Erlösung. Merz soll die Union | |
entmerkelisieren, zu ihrem wahren Kern zurückführen. Auch Brinkhaus scheint | |
an diese Überlebensnotwendigkeit zu glauben. In dieser Zeitung schrieb ein | |
Kollege vor Kurzem, d[4][ass Merz als Parteivorsitzender dafür sorgen | |
könne, dass das Konservative nicht heimatlos werde], dass sonst das | |
Erstarken der blaubraunen Alternative drohe. | |
Die Zeit lässt sich aber nicht zurückdrehen. Und wenn man sie zwanghaft | |
zurückdrehen will, dann geht das nicht, ohne demokratische Standards zu | |
entsorgen. Denn die Zeiten von Helmut Kohl waren nicht nur die der | |
blühenden Landschaften. Sie waren auch jene der brennenden Migrantenhäuser. | |
25 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Oxymoron | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/zuviel-rot-gruen-bei-ampel-interview-ralph-b… | |
[3] /Einigungen-der-Ampel-Parteien/!5817741 | |
[4] /Friedrich-Merz-kandidiert-als-Parteichef/!5813980 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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