| # taz.de -- Neues Soloalbum von Damon Albarn: Wikinger in der Schauerromantik | |
| > Gorillaz- und Blur-Sänger Damon Albarn veröffentlicht „The Nearer the | |
| > Fountain, More Pure the Stream Flows“. Auf dem Album zeigt er sich | |
| > melancholisch. | |
| Bild: Damon Albarn wird an der See ganz melancholisch | |
| Aus dem Fenster schauen und den tranceartigen Zustand zulassen – ob der | |
| Naturdramen, die sich draußen abspielen. So lautete die Ansage, als Damon | |
| Albarn Anfang 2020 zwölf Musiker:innen des Ensembles stargaze nach | |
| Island einlud – ein Land, dass den britischen Popstar bereits in den 1990er | |
| Jahren in den Bann zog. Mittlerweile lebt er zeitweilig dort und besitzt | |
| neben der britischen auch die isländische Staatsbürgerschaft. | |
| Innerhalb vage definierter Parameter zu improvisieren, das sei „ziemlich | |
| kompliziert, wenn man fast keine verabredete Grundlage hat“ – | |
| [1][beschreibt Damon Albarn] im Interview mit der taz die | |
| Herausforderungen, die in „Meditationen über isländische Landschaften“ | |
| stecken. Dann begann allerdings die Coronapandemie, alle Musiker:innen | |
| mussten nach Hause. In Albarns Fall lag das andere Zuhause ebenfalls an | |
| einer bisweilen wilden Küste: in Devon im Südwesten Englands saß der | |
| 53-Jährige die Pandemie zunächst aus. | |
| Einen Lockdown-Winter später, und aus dem Island-Projekt wurde erst einmal | |
| nicht das geplante sinfonische Werk, sondern Albarns zweites Soloalbum „The | |
| Nearer the Fountain, More Pure the Stream Flows“ (Je näher der Flussquelle, | |
| desto reiner der Strom): Es sind zwölf sehr unterschiedliche, teils | |
| geschmeidig-melodiöse, teils experimentelle, bisweilen jazzige und, bei | |
| allem darin steckenden Swing, meist melancholisch anmutende Stücke | |
| geworden. | |
| Einige offenbaren ihre Popgrundierung erst nach mehrmaligen Hören, unter | |
| dem latent esoterischen Rauschen, dem man das Urkonzept durchaus anhört, | |
| besonders in seinen gewagteren Momenten. In der Bühnenfassung soll die | |
| Musik dann übrigens wieder im Sinne der Ausgangsidee präsentiert werden: | |
| als sinfonisches Ensemble-Stück, in das die Songs eingeflochten werden. | |
| ## Düstere Reise | |
| „Ich war auf meiner eigenen düsteren Reise, während ich diese Musik | |
| eingespielt habe. Das führte mich zur Überzeugung, dass eine reine Quelle | |
| durchaus existieren könnte“, wird der Popstar auf dem Waschzettel zitiert. | |
| In Verbindung mit den teils tieftraurigen Texten klingt die Musik ganz | |
| schön bedeutungsschwer. Etwa, wenn Albarn im elegischen Titeltrack singt: | |
| „The dark journey that leaves no returning /… Left so desolate now / When | |
| youth seemed immortal / So sweet it did weave / Heavens halo around“. | |
| Beim Interview präsentiert sich der Brite aber kein bisschen schwermütig, | |
| sondern wirkt aufgeräumt und recht wohlgemut. In London arbeitet er derzeit | |
| an neuem Material für sein virtuelles Projekt Gorillaz, das er zusammen mit | |
| Comiczeichner Jamie Hewlett konzipiert. | |
| Inzwischen hatte dann auch die Autorin festgestellt, dass die oben | |
| zitierten Zeilen gar nicht aus Albarns Feder stammen, sondern aus dem | |
| Gedicht „Love and Memory“ von John Clare. Der englische Dichter des frühen | |
| 19. Jahrhunderts wurde für seine Beschreibungen des Landlebens gefeiert, | |
| die letzten 37 Jahren seines Lebens verbrachte er allerdings in der | |
| Psychiatrie. | |
| ## Love and Memory | |
| Seinem Gedicht ist auch der pathosträchtige Albumtitel entliehen. „Clare | |
| war ein Dichter aus der Arbeiterklasse, der sehr sensibel gegenüber der | |
| Umwelt und der eigenen Psyche war – nicht so bekannt wie Lord Byron und | |
| William Blake, aber nicht weniger einflussreich“, erklärt Albarn. | |
| Als ich erwähne, dass ich die Texte zunächst für seine eigene Worte hielt, | |
| muss Albarn lachen. „Blimey, no! In meinen Teenagerjahren schenkte mir | |
| meine Mutter eine Anthologie von Clare. Die Zeilen, die jetzt titelgebend | |
| wurden, lösten bei mir starke Resonanz aus und begleiteten mich seither. In | |
| meinem Gedächtnis waren sie zwischendurch fast von Clare abgekoppelt. | |
| Erst während der Arbeit an den Kompositionen fühlte ich mich in der | |
| Pflicht, das Gedicht nochmal genauer anzusehen. Die verwendeten Passagen | |
| sind nicht meine Worte, doch sie erschienen mir passend. Ich fühle mich | |
| wohl damit, sie zu singen. Zumal ‚Love and Memory‘ doch genau die Dinge | |
| sind, die uns als Menschen weitermachen lassen.“ | |
| Leicht selbstironisch schiebt Damon Albarn hinterher: „Jetzt bin ich | |
| endgültig im 19. Jahrhundert angekommen!“ Was die Frage aufwirft, wie | |
| Albarn filtert, welche Ideen und Stimmungen zu welchem seiner doch sehr | |
| unterschiedlichen Projekte gehören. Legt er Einfälle in Schubladen ab, um | |
| später darauf zurückzukommen? Eher, so erklärt er, laufe es so, dass er | |
| sich für eine Zeitraum vollständig einem Projekt widmet: „Den Impuls lasse | |
| ich in eine bestimmte Richtung laufen und bleibe dabei, bis ich ein Ziel | |
| erreiche, wie ich es mir vorgestellt habe.“ | |
| ## Schwimmen im Meer | |
| Mit dem neuen Album führte ihn das eher in schwebende Sphären, die | |
| bisweilen aquatisch anmuten. Etwa, wenn er einen Kormoran besingt, im | |
| schwermütigen und doch leicht verspult vor sich hin plätschernden Song „The | |
| Cormanant“. Von dem Vogel fühlte er sich bei Schwimmexkursionen im Meer | |
| beobachtet, die er während des Lockdowns unternahm – und die er sehr | |
| vermisst. | |
| „Devon ist vielleicht nicht ganz so wild wie isländische Landschaften, aber | |
| im Winter ähnlich „kalt, brutal und düster. Ich verbringe viel Zeit am | |
| Strand. Wenn man eine Gegend gut kennt, nimmt man subtile Veränderungen | |
| wahr: Dinge, die etwa letztes Jahr noch ein bisschen anders aussahen. Der | |
| Klimawandel hat konkrete Auswirkungen.“ | |
| Der schlechte Zustand der Ozeane hat Albarn immer wieder beschäftigt, etwa | |
| auf dem Gorillaz-Album „Plastic Beach“ (2010). Womit wir zurück in der | |
| unwirtlichen Gegenwart sind: bei ökologischen Katastrophen, | |
| Überbevölkerung, Auswirkungen der Pandemie, welche die Digitalisierung und | |
| die Installation von Überwachungstechnologien weiter beschleunigt hat. Und | |
| natürlich beim Brexit. Damon Albarn redet sich bei diesen Themen in Rage, | |
| bis er selbst bremst: „Okay, das war meine Dosis mittwöchlicher Angst.“ | |
| Doch machen Vorstellungen von pureness, auf die er in den neuen Songs ja | |
| doch positiv Bezug nimmt, in unserer widersprüchlichen, chaotischen | |
| Gegenwart überhaupt noch Sinn? Ideen von Reinheit begegnen einem ja nicht | |
| umsonst oft in totalitären Zusammenhängen. | |
| ## Kapitalismuskritik | |
| Es lohne sich schon, danach zu streben, findet Albarn. „Aber zuerst müssen | |
| wir unsere Träume bereinigen. Was wir diesbezüglich gesellschaftlich | |
| angeboten bekommen, ist ja ziemlicher Dreck. Dafür wiederum müssen wir | |
| einen großen Teil unseres Glaubenssystems über Bord werfen, eigentlich alle | |
| Grundlagen des Kapitalismus. Es bedarf wohl einer ziemlich fundamentalen | |
| Neukalibrierung unserer Träume.“ | |
| Eine Frage bleibt noch: Wenn er auf Tuchfühlung zum Atlantik geht, trägt er | |
| dann Neoprenanzug? „Nee, ich bin Wikinger!“ Es gibt ihn also noch: den | |
| Popstar, der auf dicke Hose macht. So wie einst, als Albarn den „laddism“ | |
| repräsentierte, eine Jugendkultur, bei der britische Mittelschichtjungs | |
| sich prollig gaben und kopierten, was sie für den Style der Working Class | |
| hielten – was Albarn nicht immer sympathisch erschienen ließ. | |
| Auch wenn er sich mittlerweile als milde gealterter Melancholiker | |
| inszeniert – nicht nur auf dem neuen Soloalbum, auch schon beim Vorgänger | |
| „Everyday Robots“ (2014), erst recht aber mit „Merrie Land“ (2018) von … | |
| Good, The Bad & The Queen, der Supergroup, bei dem der 2020 verstorbene | |
| nigerianische Drummer Tony Allen mitwirkte. | |
| Nun aber wäre alles andere als eine desillusionierte Grundierung, wie auch | |
| immer sie sich manifestiert, auch ein bisschen seltsam in diesen Zeiten. | |
| 6 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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