Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- SPD-Außenpolitiker Annen über Libyen: „Ansatz war nie Machtproj…
> Niels Annen kennt sich mit den Besonderheiten deutscher Außenpolitik im
> Maghreb aus. Er spricht über den Stand des Libyen-Friedensprozesses.
Bild: Westsahara-Flüchtlinge in Algerien
taz: Herr Annen, Ihre letzte Reise als Staatsminister hat Sie durch die
Maghrebstaaten Algerien, Tunesien und Libyen geführt. Was war das Ziel
Ihrer Reise?
Niels Annen: Ich bin zuerst nach Algerien gereist, ein wichtiger Partner
Deutschlands in der Region und das größte Land Afrikas. Danach war ich auch
in Tunesien und Libyen. Algerien ist, wenn man sich die staatlichen
Strukturen und die Verfasstheit der Wirtschaft, vor allem das schwierige
Investitionsklima anschaut, ein Land mit vielen Unbekannten. Es gab eine
starke Protestbewegung, die jedoch über die Zeit deutlich kleiner geworden
ist. Ich war dort aber auch, weil man dort intensiv mit der Sahelregion
befasst ist, wo sich Deutschland mittlerweile auch sehr stark engagiert.
Und Libyen war natürlich auch ein Thema, da dessen politische Lage die
Nachbarländer seit Jahren beunruhigt.
Was war Ihre Botschaft in Algerien?
Das Land lebt sehr stark davon, fossile Brennstoffe zu verkaufen. Ich habe
versucht zu erklären, was an Veränderungen in Richtung CO2-freie Wirtschaft
in Deutschland und ganz Europa auf der Agenda steht. Das wird dramatische
Veränderungen für die Gas- und Öleinnahmen haben und schneller gehen, als
sich sogar viele in Deutschland vorstellen können. Darauf wird auch
Algerien reagieren müssen, für das es aber natürlich auch Alternativen wie
grünen Wasserstoff gibt. Dazu arbeiten wir seit 2015 in einer
Energiepartnerschaft zusammen.
Wenn man sich zudem in Algerien mit Vertretern der Zivilgesellschaft oder
Parlamentariern unterhält, ist allein das schon eine wichtige Botschaft an
die dortige Öffentlichkeit. Zugleich muss man den Versuch unternehmen zu
verstehen, wie das politische System im Hintergrund funktioniert. Meine
große Sorge ist, dass das Land einen Weg eingeschlagen haben könnte, der
die sehr junge Bevölkerung ausschließt.
Zwischen Marokko und Algier herrscht wegen des Konfliktes um die von
Marokko verwaltete [1][Westsahara] Eiszeit. Hat man Sie auf das derzeit
angespannte Verhältnis zwischen Marokko und Deutschland angesprochen?
Höchstens am Rande. Ich habe es grundsätzlich als sehr professionell
empfunden, dass die algerischen Gesprächspartner nicht versucht haben, die
Spannungen zwischen Marokko und Deutschland für sich zu nutzen.
Warum hat Marokko Ihrer Meinung nach die diplomatischen Beziehungen zu
Deutschland eingefroren?
Marokko hat den normalen Umgang, wie er zwischen Staaten üblich ist,
eingestellt. Es gibt quasi keine Kommunikation mehr und der für Rabat
ausgewählte deutsche Botschafter wartet seit fünf Monaten auf sein
Agrément. Das ist schon ein ungewöhnliches Vorgehen unter befreundeten
Ländern. Die marokkanische Seite scheint den öffentlichen Äußerungen nach
zu erwarten, dass Deutschland seine langjährige Tradition zum
Westsaharakonflikt verändert, also die Zugehörigkeit dieses annektierten
Gebietes zu Marokko anerkennt. Alle bisherigen Bundesregierungen teilen die
Rechtsauffassung der Vereinten Nationen, dass der Status der Westsahara
ungeklärt ist. Diesen abschließend zu definieren, ist Gegenstand eines
Verhandlungsprozesses unter UN-Führung. Die Bundesregierung unterstützt
alle Bemühungen auf der Basis der einschlägigen Resolutionen des
Sicherheitsrats, um zu einer gerechten, dauerhaften und für alle Seiten
akzeptablen Lösung des Konflikts zu gelangen. Eine solche Lösung werden wir
dann selbstverständlich akzeptieren.
Wie haben Sie die [2][Absetzung der Regierung und des Parlamentes in
Tunesien durch Präsident Kais Saied] wahrgenommen?
Dieser Schritt im Juli hat tatsächlich einige Schockwellen nach Europa
gesandt, auch zu uns nach Deutschland. Denn mit keinem anderen Land der
Region haben wir in den letzten Jahren so eng zusammengearbeitet – auch von
den Ergebnissen der Revolution und der Etablierung eines demokratischen
Systems motiviert. Und all das steht zumindest mit Stand heute infrage.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Tunesien ein?
Ich habe bei meinen Treffen mit Regierungsvertretern versucht
herauszufinden, wie genau und wann die nächsten Schritte des Präsidenten
hin zur Rückkehr zur Demokratie aussehen werden. Eine klare Antwort habe
ich leider nicht erhalten. Ich habe unsere Sorgen dargestellt und unsere
Erwartung, dass der Präsident einen klaren Zeithorizont für die Rückkehr zu
einer demokratischen verfassungsmäßigen Ordnung vorstellt. Ich habe den
Eindruck, diese Frage beschäftigt nicht nur Diplomaten und Experten in
Berlin, sondern gerade auch viele Tunesierinnen und Tunesier.
Verliert Tunesien nun die deutsche Unterstützung?
Für uns spielt Tunesien eine herausragende Rolle, die wirtschaftliche und
kulturelle Zusammenarbeit ist so eng wie nirgendwo sonst in der Region,
ebenso die Beziehung zur Zivilgesellschaft. Uns ist daher sehr bewusst,
dass es hier auch in der Zivilgesellschaft eine entschiedene Ablehnung des
bisherigen Parlaments und der etablierten Parteien gibt. Das Land leidet
unter einer schweren ökonomischen Krise und Korruption. Aus dieser Logik
heraus hat der Präsident auf die Krise reagiert. Es wäre jetzt aus unserer
Sicht aber nicht richtig, alle Kooperationen zu stoppen und damit
letztendlich der tunesischen Zivilgesellschaft den Rücken zuzukehren. Aber
natürlich schauen wir uns die nächsten Schritte genau an. Unsere Erwartung
habe ich ja zum Ausdruck gebracht.
Wie viel Zeit geben Sie Kais Saied noch bis zum Stopp der Finanzhilfen oder
Sanktionen?
Ich bin nicht nach Tunesien gekommen, um Konditionen zu formulieren,
sondern um deutlich zu machen, dass uns als Bundesregierung bereits
Anfragen aus dem Parlament über die Demokratie in Tunesien erreichen. Der
Bundestag war in den letzten Jahren hier sehr engagiert. Wenn sich der
demokratische Charakter dieses Landes grundlegend verändert, wird sich auch
die Art der Zusammenarbeit ändern.
Mehr Druck auf Kais Saied kommt aus Brüssel, wo eine Mehrheit des
EU-Parlaments eine Rückkehr Tunesiens zur parlamentarischen Demokratie
forderte …
Ich bin selten so häufig auf eine Resolution des europäischen Parlaments
angesprochen worden wie in Tunesien. Daran kann man die starke europäische
Orientierung des Landes ablesen. Der Hohe Beauftragte der EU, Josep
Borrell, hat in Tunis deutlich gemacht, dass Europa in diesem Fall an einem
Strang zieht. Das wird nicht ohne Wirkung bleiben.
Sie sind als eine von 30 Delegationen zur Libyen-Stabilisierungskonferenz
nach Tripolis gereist. Der dortige Waffenstillstand gilt als Erfolg des
sogenannten Berliner Prozesses.
Die Libyer hatten erstmals selber eingeladen. Auch wenn noch große Fragen
des politischen Prozesses offenbleiben, hat man gemerkt, wie groß der Stolz
ist über das, was in den letzten Monaten erreicht wurde.
In Libyen wird nun bald ein neues Parlament gewählt, doch die
Parteistrukturen sind noch katastrophaler als in Tunesien. Haben die
Entwicklungen in Tunesien nicht gezeigt, dass Wahlen und ein Parlament
allein keine Verbesserung der Lage bringen?
Es geht ja am Ende darum, ob es in Libyen gelingt, dass eine legitimierte
und von allen akzeptierte Regierung gewählt wird. Die aktuelle
Übergangsregierung, die durch das von den Vereinten Nationen geschaffene
libysche politische Dialogforum bestimmt wurde, hat teilweise erfreuliche,
wenn nicht sogar erstaunliche Resultate hervorgebracht. Aber eine
dauerhafte Legitimation können am Ende nur Wahlen bringen. Man darf
natürlich nicht den Fehler machen zu glauben, dass mit Abschluss eines
Wahlganges die Probleme Libyens gelöst wären. Aber die spezifische
politische Kultur des Landes, die Tradition, gewisse Fragen auszuhandeln
und Interessen auszugleichen, muss nicht im Widerspruch zu einem gewählten
Parlament oder Präsidenten stehen.
Die libyschen Parlamentswahlen von 2014 haben aber auch gezeigt, dass die
Nichtanerkennung des Ergebnisses einen Krieg auslösen könnte. Wird
Deutschland sich bei der Sicherung der Ergebnisse engagieren?
Das Schweigen der Waffen seit dem Waffenstillstandsabkommen im Oktober 2020
hat das Leben der Menschen ganz konkret verbessert. Wir haben in Tripolis
Menschen getroffen, die uns in halb zerstörten Gebäuden erzählt haben, dass
sie Pläne haben, ein Hotel zu eröffnen. Ich setze daher darauf, dass die
Erfahrung mit dem Waffenstillstand und die nach allen Umfragen hohe
Bereitschaft, sich an einer Wahl zu beteiligen, Faktoren sind, die Libyen
stabilisieren. Ob es dann eine Demokratie wird, die sich an unserem
Beispiel orientiert, oder ob sie einen eigenen Weg einschlägt, das bleibt
abzuwarten.
Wie könnten die Wahlergebnisse durchgesetzt werden?
Die Präsenz von Wahlbeobachtern der EU wäre ein wichtiges Zeichen. Was die
deutsche Rolle angeht: Unser Ansatz war nie, sich mit irgendeiner Form von
Machtprojektion einzumischen. Ganz im Gegenteil. Wir haben mit den Ländern
gesprochen, die den Kriegsparteien Waffen liefern und haben unser Bestes
getan, sie davon zu überzeugen, dass am Ende alle verlieren, wenn der Krieg
weitergeht. Das Land hat eine Chance, wenn es gelingt, den Abzug der
Söldner so zu organisieren, dass keine Seite schwächer gestellt wird.
Möglicherweise wird es Rückschritte geben – bei der Akzeptanz der
Wahlergebnisse oder beim geplanten Abzug. Aber wir werden auch weiterhin im
Berliner Prozess engagiert bleiben, die Vereinten Nationen unterstützen und
ein echter Partner für das libysche Volk bleiben.
Wie sehen Sie das zukünftige Engagement Deutschlands in Libyen und der
Region?
Ich bin mir sicher: Auch die neue Bundesregierung wird sich weiter für
einen nachhaltigen Frieden in Libyen engagieren. Deutschland genießt hier
einen guten Ruf. Es wird häufig unterschätzt, dass dies eines unserer
wichtigsten Instrumente ist. Uns wird nicht unterstellt, dass wir uns
engagieren, weil wir bestimmte wirtschaftliche Interessen haben oder weil
wir eine besonders enge Bindung zu einer Konfliktpartei hätten. Es hat sich
ausgezahlt, dass wir mit dem Berliner Prozess am Ball geblieben sind und an
diplomatische Instrumente geglaubt haben. Dadurch haben wir ein Zeichen
gesetzt, dass man etwas erreichen kann, wenn man sich politisch engagiert
und nicht versucht, über eine Form der Machtpolitik eigene Ziele
durchzusetzen.
Der Maghreb steht aus europäischer Sicht für Krisen, Flucht und Terror …
Man tut der Region unrecht, wenn man sie auf diese Punkte reduziert. Das
sollten wir auch im europäischen Diskurs nicht tun. Ja, es gab eine
schlimme Zeit des Terrorismus hier in Tunesien, aber wir haben auch eine
Zivilgesellschaft erlebt, die sich dagegen erhebt. Für die Zukunft ist vor
allem die wirtschaftliche Entwicklung der Region wichtig – auch für uns
europäische Nachbarn. Ganz wichtig wäre dazu zum Beispiel eine stärkere
regionale wirtschaftliche Integration Nordafrikas, die Hunderttausende
Arbeitsplätze schaffen würde. Wir können und wollen dabei weiter helfen und
sind dazu auch moralisch verpflichtet. Aber wir können und wollen auch
nicht die Entscheidungen für andere Länder treffen, die zu Recht stolz auf
ihre Unabhängigkeit sind.
1 Nov 2021
## LINKS
[1] /Urteil-des-Europaeischen-Gerichts/!5800628
[2] /Politische-Krise-in-Tunesien/!5807679
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
Libyen
Auswärtiges Amt
SPD
Tunesien
Maghreb
Marokko
SPD Hamburg
Abdul Hamid Dbaiba
Tunesien
Tunesien
Gaddafi
Libyen
Abdul Hamid Dbaiba
Algerien
Libyen
Tunesien
Marokko
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hamburger SPD-Abgeordneter Niels Annen: Tschüss, Bundestag!
Nach 16 Jahren im Bundestag wird der SPD-Außenpolitiker Niels Annen nicht
wieder kandidieren. Das habe nichts mit der aktuellen Lage zu tun, sagt er.
Präsidentschaftswahl in Libyen: Ein Land, zwei Premiers
In Libyen konkurrieren derzeit zwei Regierungen, gefördert durch
ausländische Partner. Der Machtkampf könnte zu einem neuen Krieg führen.
Verurteilung von Tunesiens Ex-Präsident: Vier Jahre Haft für Marzouki
Nach dem Sturz Ben Alis sollte Moncef Marzouki Tunesiens Übergang zu einer
Demokratie leiten. Nun wurde er in Abwesenheit verurteilt.
Tunesien nach dem Putsch: Saied sagt Neuwahlen zu
Tunesiens Putschpräsident kündigt für 2022 Neuwahlen und ein offenes
Referendum für eine neue Verfassung an. Die Zivilgesellschaft bleibt
skeptisch.
Jagd nach Gaddafi-Vermögen: Schatzjäger mit rechtsextremem Netz
taz-Recherchen zeigen: Deutsche mit rechtsextremen Verbindungen suchen den
Milliardenschatz des einstigen libyschen Diktators.
UN-Sondergesandter in Libyen: Im Stich gelassen
Der slowakische Diplomat Jan Kubis tritt als UN-Sondergesandter für Libyen
zurück. Er hatte genug.
Vor Wahltermin in Libyen: UN-Libyen-Gesandter gibt auf
Kurz vor der umstrittenen Wahl sorgt der Rücktritt von Ján Kubiš für
Unsicherheit. Mit dem Urnengang sollen die Libyer ihre Spaltung überwinden.
Konflikt um die Westsahara: Algier wirft Rabat Lkw-Angriff vor
Per Drohne soll Marokko algerische Lastwagen bombardiert haben. Die
Fahrzeuge waren in den von der Polisario kontrollierten Gebieten unterwegs.
Geflüchtete in Libyen: Tausende harren vor UN-Gebäude aus
In Libyen leben bis zu 10.000 MigrantInnen und Flüchtlinge weiter auf der
Straße. Sie waren eingesperrt worden, konnten aber entkommen.
Politische Krise in Tunesien: Saied setzt neue Regierung ein
Nach der Entmachtung von Regierung und Parlament hat Präsident Saied ein
neues Kabinett ernannt. Dessen Vollmachten sind allerdings beschränkt.
Urteil des Europäischen Gerichts: Westsahara-Abkommen sind nichtig
Das Gericht verteidigt das Recht der sahrauischen Bevölkerung auf
Selbstbestimmung. Rechtskräftig ist das Urteil aber noch nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.