| # taz.de -- Kino-Komödie „Online für Anfänger“: „Offline aus Selbstsch… | |
| > Auf der Berlinale gewann der Film „Online für Anfänger“ einen Silbernen | |
| > Bären. Ein Interview mit den Regisseuren über Pizzadienst und | |
| > Ökodiktatur. | |
| Bild: Marie (Blanche Gardin) und Christine (Corinne Masiero) mit Analogtechnik | |
| Ein Oktobernachmittag in Berlin. Gustave Kervern, 59, und Benoît Delépine, | |
| 63, sind in der Stadt, um ihre Filmgroteske „Online für Anfänger“ | |
| vorzustellen, nachdem sie im vergangenen Jahr damit auf der Berlinale | |
| einen Silbernen Bären gewonnen hatten. Darin beschäftigen sie sich voller | |
| anarchischem Humor mit dem Internet und seinen Auswüchsen im Alltag. Das | |
| französische Regieduo („Mammuth“, „Louise Hires a Contract Killer“) is… | |
| Plauderlaune, die Rotweingläser werden zügig geleert und nachgefüllt. | |
| taz: Messieurs, wie haben Sie die Stunden verbracht, als Anfang des Monats | |
| Facebook & Co gecrasht sind und die wichtigsten sozialen Medien nicht | |
| verfügbar waren? | |
| Gustave Kervern: Das haben wir, ehrlich gesagt, gar nicht mitbekommen. Wir | |
| gehören zur Generation, die nichts versteht von Facebook, Whatsapp, Tiktok | |
| und wie das alles heißt. Ich bin auf Instagram und Twitter, aber so richtig | |
| verstanden, wie das funktioniert, habe ich nie. Und wenn das mal eine Weile | |
| offline ist, krieg ich das im Zweifel gar nicht mit. | |
| Benoît Delépine: Meine Mutter hat mich schon als Kind gewarnt, dass ich | |
| aufpassen soll, was ich mache, weil die Leute hinterm Rücken über einen | |
| reden. Und genau das ist das Internet für mich heute. Ich selber gehe gar | |
| nicht mehr online. Es wird viel Hässliches gepostet. Aber auch, was man | |
| selber schreibt, wird gleich kommentiert und auseinandergepflückt. Eine | |
| befreundete Kollegin, ich will ihren Namen nicht nennen, hat im Netz einen | |
| heftigen Verriss ihres Films gelesen, was sie so blockiert hat, dass sie | |
| zehn Jahre gar nicht mehr gedreht hat. Ich setze mich dem bewusst nicht | |
| aus, schon aus Selbstschutz. Also offline. | |
| Abgesehen von miesen Bewertungen auf Portalen reißen Sie in Ihrem Film | |
| Auswüchse der Digitalisierung an, von unübersichtlichen Handytarifen über | |
| Warteschleifen im Kundencallcenter bis zu Cybermobbing. Auch aus eigener | |
| Erfahrung? | |
| BD: Wir machen unsere Filme in erster Linie, um uns zu rächen. Für die fünf | |
| globalen US-Tech-Unternehmen Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft | |
| gibt es die Abkürzung Gafam. Und Gafam ist die Hölle. Der Plan war, sich | |
| beim Internet und seinen schrecklichen Folgen zu revanchieren. Aber Gafam & | |
| Co ist das natürlich ziemlich egal. | |
| GK: Meine Tochter ist 15 und dauernd auf Tiktok, sie starrt oft stundenlang | |
| auf ihr Smartphone. Mir macht das Sorgen. Teenager sind permanent online | |
| und leiden darunter. Erst vergangene Woche hat ein Mädchen Suizid | |
| begangen, weil sie im Internet gemobbt wurde. Früher gab es mal Stress auf | |
| dem Schulhof, heute ist diese Art von Mobbing grenzenlos, Jugendliche | |
| werden von Gleichaltrigen im Internet bloßgestellt. Es ist ein | |
| Riesenproblem, das gelöst werden muss. Es soll bald im französischen | |
| Parlament erörtert werden. | |
| Halten Sie denn Gesetze für hilfreich, um die Allmacht der Tech-Konzerne | |
| einzugrenzen? Geht es womöglich nur mit Hackern? Oder brauchen wir mehr | |
| Eigenverantwortung, um digitale Technologien maßvoll zu nutzen? | |
| BD: Als wir angefangen haben mit unseren Filmen, wollten wir die Mächtigen | |
| und Profiteure an der Spitze angreifen. Mit fortschreitendem Alter merkt | |
| man, dass es etwas komplizierter ist … die Gesellschaft hat sich immer mehr | |
| individualisiert. In „Louise Hires a Contract Killer“ haben wir noch die | |
| Bosse umlegen lassen, da galten wir als filmische Linksterroristen. Aber | |
| heute ertappe ich mich schon auch mal dabei, dass ich mir Lebensmittel | |
| nach Hause bestelle, statt in den Laden zu gehen. Die Welt heute ist | |
| aufgeteilt in Lieferanten und die, die sich beliefern lassen. Heute lässt | |
| sich ein 17-Jähriger die Pizza von einem anderen 17-Jährigen liefern, daran | |
| krankt unsere Gesellschaft. | |
| Sie sind also selbst Teil des Problems? | |
| GK: Natürlich! Das merke ich ja in meinem Alltag. Nachmittags um 16 Uhr | |
| klingelt es an der Tür, weil mein 19-jähriger Sohn gerade aufgewacht ist | |
| und sich mit meiner Kreditkarte was zu essen bestellt hat. Dabei ist der | |
| Kühlschrank voll! Und wenn ich seine Faulheit als Ausbeuterei anklage und | |
| mir der Lieferant leidtut, meint er nur: „Wenn ich nichts bei ihm bestelle, | |
| verdient er in der Zeit gar nichts. So kriegt er wenigstens ein paar Euro | |
| pro Lieferung.“ Das Prinzip Gig Economy. Ich bin da auch ratlos. | |
| Sie haben also auch keine Lösung? | |
| BD: Wir brauchen eine ökologische Diktatur. Eine radikale Einschränkung | |
| der Ressourcen: Jeder bekommt pro Tag nur noch zehn Liter Wasser. Und nur | |
| ein Liter Wein ist erlaubt. | |
| GK: Ach, sagen wir: zwei Liter Wein. Wir müssen ja nicht übertreiben. Aber | |
| Flugreisen und all die anderen Umweltsünden auf ein Minimum reduzieren. Wir | |
| müssen uns entscheiden: das oder das Ende der Welt. Ein globaler Krieg | |
| gegen den CO2-Ausstoß! Auf die Politik können wir uns da nicht verlassen, | |
| wir brauchen einen Volkstribun. Leider ist der gerade eher in rechter Hand. | |
| Am Aufstieg der Rechten und der Spaltung der Gesellschaft haben ja die | |
| sozialen Medien nicht unerheblichen Anteil, weil Meinungen manipuliert | |
| werden und viele immer weniger Fakten von Fakes unterscheiden können. Das | |
| sparen Sie in Ihrer Satire allerdings aus. Weil Sie selbst keine Idee | |
| haben, wie man damit umgehen soll? | |
| BD: Auch wir können nicht die Welt retten. Und wir prangern Missstände | |
| durch Humor an, Antworten maßen wir uns nicht an. Aber es stimmt, in | |
| Frankreich gibt es einen Diskurs von Leuten, die den Eliten misstrauen. Man | |
| polemisiert gegen jene, die wie die meisten Politiker auf bessere Schulen | |
| gegangen sind. Aber sie haben dadurch wenigstens eine gewisse Ahnung von | |
| Geschichte, Politik und Philosophie. Einfach nur dagegen zu wettern hilft | |
| auch nicht weiter. Politik zu machen ist eine komplexe Aufgabe. Ich wohne | |
| in einem kleinen Dorf und möchte wirklich nicht den Job des Bürgermeisters | |
| dort machen. | |
| Was Sie im Film dagegen thematisieren, sind die Gelbwesten, die sich dank | |
| sozialer Medien vernetzt und eine Weile starken Zulauf hatten, inzwischen | |
| aber in sich zusammengefallen sind. Warum ist diese Bewegung Ihrer Ansicht | |
| nach gescheitert? | |
| GK: Ihr Problem war, dass sie keine wirklichen Anführer hatten. Das war ein | |
| heterogener Haufen, in dem sich alle möglichen Strömungen zusammengefunden | |
| haben, die mit der sozialpolitischen Situation unzufrieden waren und | |
| dagegen protestierten. So bekamen die extremen Ränder immer mehr Einfluss, | |
| vor allem die Rechten. Es ist theoretisch natürlich toll, wenn keiner das | |
| Sagen hat, darauf waren diese Leute auch lange stolz, aber ganz ohne | |
| Struktur und Hierarchien funktioniert es eben auf Dauer nicht. | |
| Entstanden ist der Film vor der Pandemie. Ihre Satire über den Einfluss der | |
| Digitalwelt auf unser Leben wirkt nach dem Lockdown streckenweise fast | |
| überholt. | |
| BD: Die Entwicklung hat sich noch einmal sehr beschleunigt und verschärft. | |
| Anderseits ist die Welt mit Covid ohne die Möglichkeiten des Internets kaum | |
| vorstellbar. Wahrscheinlich wurde durch die Information und Kommunikation | |
| eine noch größere Katastrophe verhindert. Wir waren alle zu Hause, aber | |
| wir waren nicht isoliert. | |
| GK: Unsere Filme sind ja nie schwarz-weiß, nichts ist nur gut oder nur | |
| schlecht. Meine Kinder waren im Lockdown permanent online, sie haben die | |
| Pandemie gar nicht so mitbekommen. Auch wir hatten viele Videokonferenzen, | |
| und das Homeoffice hat schon sehr viel Gutes. Das Problem sind nicht die | |
| technologischen Möglichkeiten als solche, sondern die großen Player, die | |
| sich noch weiter bereichert haben und ein Staat im Staat geworden sind. Sie | |
| haben sich eine ungeheure Macht angeeignet und zahlen dabei noch nicht mal | |
| ihre Steuern. | |
| 28 Oct 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Abeltshauser | |
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