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# taz.de -- Komödie „Nö“ in den Kinos: Schleifen der Selbstoptimierung
> Regisseur Dietrich Brüggemann versucht sich mit dem Film „Nö“ am
> Generationenporträt von Mittdreißigern. Es geht um Angst, unauthentisch
> zu leben.
Bild: Zigarettenpause im OP: Alexander Khuon als Michael
Zwei Köpfe ragen aus einer Bettdecke. Sie fragen, was sie aneinander mögen
und was nicht. Der eine Kopf sagt: „Wir sollten uns trennen. Wir ziehen ein
Programm durch, das wir uns selbst nicht ausgedacht haben.“ Der andere ist
nicht einverstanden. Sie seien doch jetzt schon fünf Jahre zusammen und
hätten die wichtigste Gemeinsamkeit für eine Partnerschaft: Ihnen seien die
gleichen Sachen egal.
Das „Nö“, mit dem Dina (Anna Brüggemann) den Trennungsvorschlag ihres
Partners Michael (Alexander Khuon) in der Szene ablehnt, setzt den Grundton
der gleichnamigen Komödie von Dietrich Brüggemann: lakonisch. Denn im
Vergleich zu den oft ausschweifenden Dialogen, die auch mal an das
verlaberte US-Genre mumblecore erinnern, wird hier in Häppchenform
serviert. Der Regisseur erzählt die folgenden sieben Jahre aus dem Leben
des Paares in 15 kurzen Vignetten.
Sie handeln von verschiedenen Lebensphasen des Paares, von der
Schwangerschaft, dem Tod eines Elternteils bis zur beruflichen Krise, die
die gelernte Schauspielerin Dina in einem absurden Method-acting-Workshop
zu überwinden versucht. Nicht alle Figuren sind so schrill wie die
exzentrische Kursleiterin, aber alle sind überzeichnet: ob der sadistische
Zahnarzt (Felix Goeser), der launische Frauenarzt (Mark Waschke), der
ungefragt das Geschlecht des Kindes verrät, oder Michaels tyrannischer
Vater Joachim (Hanns Zischler), sie sind durchdrungen von Klischees, die
das hierzulande weit verbreitete Bedürfnis nach Peinlichkeit zu bedienen
scheinen.
Klischees sind aber nichts anderes als Wetten auf eine erwartete
Wiederholung und so entsteht schnell ein Ermüdungsseffekt. Brüggemann zeigt
jedoch ein gutes Gespür für die Form. Viele der Vignetten sind, wie schon
in seinem Film „Kreuzweg“ (2014) als tableau gedreht, eine unbewegte
Kameraeinstellung, die alle Akteur*innen zugleich zeigt. Weil diese
Perspektive das Künstliche verstärkt, wird das Gesehene zumindest
erträglich.
Drang zum Besonderen
Zudem steht das genretypische Stilmittel der Überzeichnung im produktiven
Widerspruch zum roten Faden des Plots, der eine Art Generationenporträt von
Mittdreißigern sein will: die Angst, ein unauthentisches Leben zu führen,
eines, das nicht selbst-, sondern fremdbestimmt ist – „ein Programm
durchziehen“, wie Michael es nennt. Während das Paar ständig versucht, das
verhasste Durchschnittsleben zu verweigern, erfüllt es genau das, was der
[1][Soziologe Andreas Reckwitz] der westlichen Gesellschaft attestiert:
einen Drang zum besonderen Lebensstil, oft verbunden mit einer Ablehnung
des gewöhnlichen.
Die Darstellung dieses Widerspruchs scheitert da, wo der Zwang zur Pointe
Selbstzweck wird, und glückt da, wo das Komische bricht, etwa wenn Michaels
Vater auch am Sterbebett seinen beiden Söhnen keine Zärtlichkeit zeigt. Er
wirkt damit einerseits wie das Relikt einer vergangenen Zeit, andererseits
authentisch. Während sein Sohn sich in den Schleifen der Selbstoptimierung
verknotet, scheint Joachim einfach nur jenem Programm zu folgen, dem alle
anderen entkommen wollen. Insofern ist „Nö“ ein Kommentar auf eine
Gesellschaft, deren Glück auch oft an der Selbsterzählung scheitert, weil
sie ständig zwischen Leben und Abbild hin- und herspringt.
Seltsam, [2][dass Brüggemann bei seinem Gespür für gesellschaftliche Fragen
im Frühjahr 2021 die Kampagne #allesdichtmachen lancierte], wo er mit 50
deutschen Schauspieler*innen mit satirisch gemeinten Videos die
Coronapolitik der Regierung thematisierte. Dass die Aktion bei allem Recht
auf Kritik an politischen Maßnahmen als pietätlos gegenüber
Covid-19-Patienten gelesen wurde, hätte er ahnen müssen. Womöglich jedoch
war das kalkuliert – so wie einige der plumperen Pointen in diesem Film.
30 Sep 2021
## LINKS
[1] /Soziologe-ueber-Corona-Massnahmen/!5673083
[2] /Aktion-allesdichtmachen-im-Netz/!5763320
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Film
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