# taz.de -- Prominente gegen Coronapolitik: Ein zweiter Versuch | |
> Erst #allesdichtmachen, nun #allesaufdentisch: Künstler:innen und | |
> Wissenschaftler:innen verbreiten wirre Skepsis gegen die | |
> Coronamaßnahmen. | |
Bild: Hat sich auch nicht von der Kritik an der ersten Aktion abhalten lassen: … | |
Sie haben es wieder getan: Nach [1][#allesdichtmachen] haben | |
Kunstschaffende nun [2][#allesaufdentisch] initiiert, die nächste | |
Exposition unserer Corona-Irrtümer. Sind das trotzige Kinder, die ihre TV- | |
und Tatort-Prominenz zum nächsten Volksaufstand der Coronaleugner und | |
Impfgegner hergeben? Ganz so einfach ist es nicht. | |
Viele Protagonisten der ersten politischen Kunstaktion haben sich | |
ausgeklinkt, und statt des kecken, meist schwer danebengegangenen | |
Satireformats haben Volker Bruch und seine Mitstreiter nun ein diskursives | |
Format gewählt, für das man Stunden braucht. | |
Statt leicht verdaulicher Videoschnipsel bekommt man auf der [3][Webseite] | |
jetzt längere Gespräche mit einer Schar von Experten und | |
Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen (darunter auch der taz-Autor | |
Ulf Erdmann Ziegler), die sich zum Teil als Dissidenten ihrer Fächer mit | |
abweichenden Meinungen zu erkennen geben. Schon die Länge und Vielzahl | |
dieser Onlinegespräche, bei denen sich die Kunstschaffenden in der Regel | |
stark zurückhalten, wird das Interesse an der Aktion bald abflauen lassen. | |
Interessant ist der Selbstwiderspruch, den gleich das erste Video aufdeckt: | |
Bruch befragt den Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen von der LMU | |
München zum Faktencheck. Meyen vertritt die Meinung, Faktenchecks, an sich | |
eine gute Sache, seien von finanzstarken „philanthropischen Stiftungen“ | |
gekapert worden und zum Machtmittel des Establishments (wir hören: der | |
politisch-medialen Klasse) geworden. | |
## Quacksalber und Scharlatane | |
Was Bruch und Meyen hier postulieren, ist also ein Faktencheck des | |
Faktenchecks. Damit passiert, was für alle Verschwörungsmythen gilt: Aus | |
Unvollkommenheiten, die auch bei jedem guten Faktencheck vorkommen, wird | |
eine generelle Skepsis, die mit weiteren, vermeintlich objektiven, aber oft | |
weit aus der Luft gegriffenen Fakten gestützt wird. | |
Bruch und Co wollen sagen: Wir sind die besseren Faktenchecker. Das | |
Handwerk und das nie ganz einzuholende Objektivitätsideal des Journalismus | |
wird damit diskreditiert, freie Bahn haben Quacksalber und Scharlatane wie | |
hier der texanische Arzt Peter McCollough, der sich mit hochproblematischer | |
Desinformation selbst ins Abseits gestellt hat, aber die Autorität seines | |
weißen Kittels vorführen darf. | |
Viele von Bruch angefragte Diskutanten haben bei dieser Aktion nicht | |
mitgewirkt. Bei renommierten Personen wie Mai Thi Nguyen-Kim, Lothar | |
Wieler, Christian Drosten, Hans-Jürgen Papier, Melanie Brinkmann erscheint | |
auf der Webseite dann eine schwarze, wohl vorwurfsvolle Kachel mit dem | |
Insert „Absage“ oder „Keine Antwort“, ebenso bei Politikern wie Jens Sp… | |
und Karl Lauterbach und TV-Größen wie Harald Lesch und Richard David | |
Precht. Sie wollten oder konnten nicht, und man kann das als Vorwurf ans | |
Establishment lesen, sich kritischen Nachfragen nicht stellen zu wollen. | |
## Keine Qualitätskontrolle | |
„Alles auf den Tisch“ suggeriert, dem großen Publikum würden Meinungen und | |
Erkenntnisse vorenthalten, dass also Zensur stattfinde. Beim Durcharbeiten | |
durch die Videos habe ich kein einziges Argument vernommen, das in der | |
Coronadebatte nicht schon oft vorgebracht worden ist. Einige Gespräche, wie | |
mit dem Philosophen Markus Gabriel über Wahrheit, sind durchaus hörenswert, | |
wie es überhaupt kein Teufelszeug ist, sich abweichenden Meinungen | |
auszusetzen. Ich empfehle die Webseite sogar, um sich mit Impfgegnern | |
auseinandersetzen zu können. | |
Ein grundsätzliches Problem der öffentlichen Kommunikation von Wissenschaft | |
wird hier sichtbar. Die Initiatoren der beiden Videoaktionen, die übrigens | |
begnadete Schauspieler, aber durchweg schlechte Interviewer und | |
Moderatoren sind, reklamieren Pluralismus. Das ist in der Tat ein hohes Gut | |
der öffentlichen Meinung wie der wissenschaftlichen Diskussion, in denen | |
Skepsis und Falsifikation echte Tugenden sind. | |
Das spricht allerdings nicht dafür, nun alle möglichen Meinungen | |
gleichberechtigt und unsortiert nebeneinander stehen zu lassen. Methodisch | |
gesicherte empirische Evidenz kann man nicht mit beliebigen Ansichten | |
beiseiteschieben und einen Konsens, der im Peer-Review einer Vielzahl von | |
Studien über Jahrzehnte hinweg zu Themen wie Impfrisiken erarbeitet worden | |
ist, nicht durch ein Pathos zerstören, das bisweilen an Giordano Bruno oder | |
Galileo Galilei erinnert. | |
Dissidentische Sturheit hat in der Vergangenheit wissenschaftlichen | |
Fortschritt bisweilen gefördert, öfter aber behindert. Viel zu lange haben | |
an den Haaren herbeigezogene Minderheitsmeinungen die Anerkennung der | |
Tatsache menschengemachten Klimawandels hinausgezögert, und im Extrem | |
bringt man Schülern neben der Evolutionstheorie auch die religiöse | |
Schöpfungslehre nahe, wie im US-Bundesstaat Tennessee, wohlgemerkt nicht im | |
Religions-, sondern im Biologieunterricht. Pluralismus muss durch Qualität | |
verdient werden und ergibt sich nicht aus dem Wegfallen von | |
Qualitätskontrolle. | |
## In unangenehmer Gesellschaft enden | |
Kritiker der Wissenschaftsförderung durch Unternehmenseinfluss und | |
Interessenkollisionen wie der [4][Volkswirtschaftsprofessor Christian | |
Kreiß] verfallen bei #allesaufdentisch in pauschale Verdammungsurteile | |
über „gekaufte Forschung“, die am Ende so gut wie jede wissenschaftliche | |
Erkenntnis (außer der eigenen natürlich!) in Verdacht stellt, von | |
interessierter Seite manipuliert worden zu sein. So endet man, wie Kreiß | |
selbst, in der unangenehmen Gesellschaft von Reichsbürgern und als | |
gescheiterter Direktkandidat der Querdenkerpartei „Die Basis“. | |
Querdenken, hier ex cathedra und im weißen Kittel, wird zur bloßen | |
Attitüde, zum Habitus prinzipiellen Dagegenseins. Der nachvollziehbare | |
Impetus der Schauspieler, Musiker, Theaterdirektoren und Kunstschaffenden, | |
die sich hier politisch exponieren, war die unverhältnismäßige | |
Betroffenheit von Lockdownmaßnahmen. Doch schaden sie ihrer Sache, wenn sie | |
die Legitimation von Pandemiemaßnahmen insgesamt von Leuten in Zweifel | |
ziehen lassen, die mit Titeln und Positionen renommieren. | |
Und zur Stilkritik: Der Generalverdacht gegenüber allem Etablierten und | |
Professionellen rechtfertigt nicht einen derart schlechten und unsortierten | |
Auftritt. | |
1 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Wahrheit/!5766353 | |
[2] https://www.allesaufdentisch.tv/ | |
[3] https://allesaufdentisch.tv/ | |
[4] https://www.allesaufdentisch.tv/gekaufte-forschung.html | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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