| # taz.de -- Geflüchtete zwischen Polen und Belarus: Europas Grenzen | |
| > Pushbacks an den EU-Außengrenzen sind rechtswidrig. Diesen Grundkonsens | |
| > hat Polens Regierung nun aufgekündigt. Innenminister Seehofer gratuliert | |
| > dazu. | |
| Bild: Protest in Warschau gegen die Pushbacks an der polnischen EU-Außengrenze… | |
| „Wir werden nicht verhungern, wir werden erfrieren.“ Das sagte einer von 31 | |
| Afghanen, die eingekesselt von Soldaten zweier Nationen und Systeme seit | |
| nunmehr zwölf Wochen im Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus | |
| festsitzen, der ARD-Reporterin Isabel Schayani am Telefon. Am Dienstag war | |
| das. In der folgenden Nacht fiel die Temperatur in der Region auf null | |
| Grad. Am nächsten Tag griffen Grenzpolizisten in der Nähe eine Gruppe von | |
| 42 Irakern auf. Unter ihnen war eine Frau, die zuvor in dem Waldgebiet ein | |
| Kind geboren hatte. Ohne Beisein eines Arztes, versteht sich. Denn die | |
| dürfen das Gebiet nicht betreten. | |
| Am selben Tag ging beim polnischen Innenminister ein Brief [1][vom | |
| deutschen Kollegen Horst Seehofer (CSU)] ein. „Gerade im Hinblick auf die | |
| schwierigen politischen Verhältnisse in den Beziehungen zu Weißrussland | |
| möchte ich Ihnen und dem polnischen Grenzschutz für den Schutz unserer | |
| gemeinsamen Außengrenze danken“, schrieb der. | |
| Rund 20.000 Versuche von Menschen, aus dem Grenzgebiet herauszukommen, | |
| haben Polens Polizei und Militär unterbunden, teils mit Hunden oder | |
| Tränengas. Wie viele Personen heute insgesamt in dem Grenzstreifen sitzen, | |
| weiß niemand. Es können Hunderte sein oder Tausende. Zuletzt gab es öfter | |
| Berichte, [2][die die sogenannten Pushbacks offenlegten, vor allem in | |
| Griechenland und Kroatien.] Zumeist stritten die jeweiligen Regierungen den | |
| Vorwurf ab, trotz teils erdrückender Belege. Wenn es Videos gab, wie sie | |
| etwa die ARD und ein kroatischer Sender nach monatelangen Recherchen im | |
| Grenzgebiet zu Bosnien-Herzegowina Anfang Oktober präsentieren konnten, | |
| wurden die Vorfälle als Taten einzelner Polizisten abgetan: Die Männer | |
| hätten „individuell gehandelt, und es hätte keinen Befehl dafür gegeben“, | |
| sagte etwa Kroatiens Polizeichef Nikola Molina in der vergangenen Woche | |
| über die Beamten, die Flüchtlinge durch den Wald prügelten und dabei | |
| heimlich gefilmt wurden. Hätte es je eine solche Anweisung gegeben, hätten | |
| die Polizisten das melden müssen, weil es sich um eine Straftat handele, so | |
| Molina. | |
| Es war eine groteske Lüge, angesichts vieler Tausender dokumentierter Fälle | |
| dieser Art aus Kroatien in den vergangenen Jahren. Doch es ist eine Lüge, | |
| über die man noch froh sein kann. Denn wie auch andere Staaten, die in der | |
| Vergangenheit bei den illegalen, gewaltsamen Pushbacks erwischt wurden, | |
| stellte Kroatien den Konsens, dass diese nicht zulässig sind, nicht in | |
| Frage. | |
| ## Untersuchungen angekündigt | |
| Für die konkret betroffenen Flüchtlinge mag dies keinen Unterschied machen. | |
| Für die politischen Interventionsmöglichkeiten ist der Unterschied | |
| gewaltig. Die prinzipielle Anerkennung des Unrechts ist eine der | |
| wichtigsten Voraussetzungen, überhaupt gegen diese Art der systematischen, | |
| staatlichen Menschenrechtsverletzung vorgehen zu können: Mit medialer | |
| Skandalisierung, mit Demonstrationen, mit Klagen, mit politischer | |
| Verurteilung, mit Sanktionen. Polen ist gerade dabei, diese Handhabe zu | |
| zerstören. Das Land behandelt die Flüchtlinge ähnlich brutal und | |
| entrechtend wie andere EU-Staaten. Aber es steht offen dazu. Es ist der | |
| Regierung in Warschau nicht peinlich, sie ist vielmehr stolz darauf. Das | |
| schneidet Interventionsmöglichkeiten weitgehend ab. | |
| Die Grenzpolizei veröffentlicht ohne eine Spur von Unrechtsbewusstsein | |
| stets aktuelle Zahlen der Pushbacks und nennt diese „Grenzverteidigung“. | |
| Semantisch vorbereitet ist dies mit der Rede vom „hybriden Krieg“, der von | |
| Lukaschenko und Putin gegen Warschau und die EU geführt werde und in dem | |
| die Flüchtlinge als Waffen eingesetzt würden. Bestärkt wird sie in dieser | |
| Haltung von Seehofer. Auch er sprach vom „hybriden Krieg“, nannte die | |
| Flüchtlinge eine „Bedrohung“ – und dankte, wie erwähnt, Polen ausdrück… | |
| Als die jüngsten Videos aus Kroatien auftauchten, nannte die | |
| EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sie „schockierend“, kündigte | |
| Untersuchungen und Gespräche mit Griechenland und Kroatien an. Ein Sprecher | |
| der EU-Kommission sagte, jegliche Gewalttaten gegen Migrant_innen, | |
| Asylsuchende oder Geflüchtete seien inakzeptabel. „Die uneingeschränkte | |
| Achtung der Grundrechte beim Schutz der Außengrenzen ist für die | |
| Europäische Kommission von entscheidender Bedeutung.“ Die Pushbacks seien | |
| „rechtswidrig“. | |
| ## Aufruf gegen Polens Regierung | |
| Denn sie verstoßen gegen die Europäische Menschenrechts- und die Genfer | |
| Konvention. Deren Unterzeichnerstaaten müssen ein mögliches Schutzgesuch | |
| individuell prüfen. Erst danach dürfen sie im Zweifelsfall abschieben. Und | |
| selbstredend müssen sie Aufgenommene bis dahin menschenwürdig behandeln und | |
| versorgen. Polen interessiert das nicht. | |
| [3][Am 27. September hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte | |
| geurteilt, dass Polen Anwälte zur Gruppe der eingangs erwähnten 31 Afghanen | |
| durchlassen muss.] Das Außenministerium in Warschau antworte dem Gericht, | |
| es denke gar nicht daran, das Urteil umzusetzen. Und die | |
| Nationalversammlung entschied am 14. Oktober, dass die Pushbacks Richtung | |
| Belarus legitim seien, eine Klagemöglichkeit dagegen nicht gewährt wird. | |
| Polens Regierung reißt so eine zivilisatorische Übereinkunft ein. Die | |
| Verrohung Europas erfährt einen Schub, die Signalwirkung ist fatal. Wenn | |
| ein EU-Staat sagt, dass er alles tun darf, damit die Flüchtlinge nicht ins | |
| Land kommen, werden sich andere dieser Haltung anschließen. | |
| Dutzende polnische Intellektuelle riefen am Freitag in einer Erklärung dazu | |
| auf, „unablässig Druck auf die polnische Regierung auszuüben, damit diese | |
| mit der Folter an der Grenze aufhört“. Das will auch die grüne | |
| EU-Abgeordnete Tineke Strik aus den Niederlanden. Sie hat in der | |
| Vergangenheit immer wieder Delegationsreisen an Orte organisiert, an denen | |
| Pushbacks belegt worden waren. Nächste Woche wird sie mit einer Gruppe von | |
| Abgeordneten nach Warschau kommen. Doch welche Wirkung kann ein solcher | |
| Besuch haben, wenn Warschau sich komplett im Recht sieht? Strik will ein | |
| Vertragsverletzungsverfahren und finanzielle Sanktionen. Es ist wohl die | |
| Sprache, die die PiS versteht. Doch vor solchen Schritten schreckt die EU | |
| bisher selbst im Rechtsstreit mit Polen zurück. Wegen der Flüchtlinge wird | |
| sie kaum weiter gehen. | |
| 23 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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