# taz.de -- Nachruf auf Evelyn Richter: Patchwork Geschichte | |
> Sie war Fotografin, Bildredakteurin, Professorin. Evelyn Richter hat ein | |
> illusionsloses Bild der DDR in der Fotografie mitgeprägt. | |
Bild: Evelyn Richter 1989 | |
Dort, [1][wo Evelyn Richter fotografiert hat], waren die Menschen müde. In | |
den Zügen hielten sie sich, halbwegs schlafend, noch soeben aufrecht. In | |
Maschinenhallen, nur teils zu sehen unter Tonnen schmutzigen Eisens, waren | |
Frauen in Routinen festgefahren. Gestriegelt, die Kinder an der Hand, | |
flanierten sie sonntags durch Museen, wo sie mit der Kunst ihrer Zeit nicht | |
wirklich etwas anzufangen wussten. Keine Frage, dass Menschen, die diese | |
Bilder betrachteten, sich in ihnen erkannten. Falls sie sie jemals gesehen | |
haben. | |
Evelyn, die von ihren Eltern auf eine calvinistische Zinzendorfschule bei | |
Dresden geschickt wurde, damit sie dem Nazidrill entginge, durfte später | |
nicht Goldschmiedin werden, so etwas Schönes gönnte man bürgerlichen | |
Kindern nicht. Fotografie studieren in Leipzig, das ging. Fotografie gab es | |
gar nicht im Kunstsystem der DDR, lange nicht, höchstens eine „Fotografik“. | |
Nach einigen Semestern wurde Evelyn Richter unter einem Vorwand | |
exmatrikuliert. So begann ihr Berufsleben. | |
Dieses endete, Ironie der Geschichte, mit einer sogenannten Ehrenprofessur | |
an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig, wo sie einst | |
vor die Tür gesetzt worden war. Sie steht noch jetzt als „Professor“ im | |
Telefonbuch. | |
Wie so viele, die in Ostdeutschland wurden, was sie wurden, war sie später | |
überidentifiziert mit den Verhältnissen, in denen sie erwachsen geworden | |
war. Eine straffe Lady, das graue Haar hinter dem Kopf gebündelt, sehr | |
deutsch – die sächsische Variante. Sie hatte zunächst bei einem | |
konventionellen Porträtisten, Pan Walther, das Atelierhandwerk gelernt: | |
Plattenkamera, Labor, Retusche. Als Walther in den Westen türmte, blieb sie | |
im Osten, wurde 1961 eingemauert und hat dann eine kleine Karriere gemacht. | |
Es gab, trotz enormer Schwierigkeiten, Buchprojekte über David Oistrach und | |
Paul Dessau. Ihre große Chance kam mit der Bebilderung eines | |
fortschrittlichen, wenn auch um Jahre verspäteten Buchs über | |
Kleinkindpädagogik, pompös betitelt „Entwicklungswunder Mensch“ (1980). | |
Hier gab sie sich mit der Rolle als halber Fotografin zufrieden und | |
wechselte auf die Seite des „Bildredakteurs“, als den sie das Impressum | |
verzeichnet. | |
Die Bilder, die sie von Kolleg(innen) einsammelte, zeigen im Nachhinein | |
einen getreuen, nahen Blick in Familienwohnungen und auf Kinderhorte | |
zwischen Leipzig und Berlin in den siebziger Jahren. Kleinkinder mit | |
Topffrisuren, Babys auf Töpfen. Bei aller Liebe: Summerhill war das nicht. | |
Unter ihrer Lehre, in Leipzig, entwickelte sich eine [2][Schule der | |
Illusionslosigkeit], die umso tiefer schürfte, als sie nicht fürchten | |
musste, in ideologische Debatten gezogen zu werden – noch nicht. 1980 aber | |
wurde die Fotografie in der DDR offiziell eine Kunst, den Entwicklungen im | |
Westen vergleichbar, nicht aber in ihren Konsequenzen. Geradezu abwegig: Im | |
Jahr 1989 bekam Evelyn Richter den Kunstpreis der DDR verpasst. | |
## Mitten in den Montagsdemo | |
Gleichzeitig war sie auf der Straße, mitten in den Montagsdemos. Als alle | |
ihren Kopf verloren und keiner mehr, vor lauter Gefühl, noch gute Bilder | |
machen konnte, fotografierte Richter zwei sehr junge Frauen in voller | |
Herbstmontur mit Kerzen, ostdeutsche Jeanne d’Arcs, verblüffend ähnlich – | |
die eine noch in der Melancholie der Vergangenheit gefangen, die andere auf | |
den Betrachter zu schreitend in die Zukunft, heller, engelsgleich. | |
Eigentlich nur zwei Schwestern auf einer Kundgebung, von Richter bildlich | |
gefasst als Allegorie. | |
Das Gegenbild, dreizehn Jahre zuvor, war auch in Leipzig entstanden, und es | |
wird bleiben: zwei Buben mit großen Fahnen auf dem Rücken, im Weggehen | |
gesehen. Im Dunst ein stolzer Plattenbau, der ihre Zukunft verriegelt, und | |
als Vedute gebaut Andeutungen von Gründerzeithäusern rechts und links. | |
Unglaublich das Flickenmuster von Kopfsteinpflaster und geteerter Straße – | |
Patchwork-Geschichte im Jahr der Ausweisung Wolf Biermanns. Soeben sind die | |
Buben, heimkehrend, auf das glänzende Schwarz getreten, wo sie nun für | |
immer verharren werden, eingereiht in die jahrhundertealte Ikonografie | |
geschlagener Helden. | |
Bleiben wird auch ihr Porträt einer winterlich gekleideten, bebrillten | |
Straßenbahnpassagierin, gesehen von außen nach drinnen, die sich in den | |
reflektierenden Fensterscheiben der fahrenden Bahn auflöst, woman in the | |
crowd. Bis dahin, 1972, musste Evelyn Richter klargeworden sein, dass sie | |
sich im banalen und beschwerlichen Alltag einer „Erziehungsdiktatur“ (wie | |
es T. O. Immisch, Kurator für Fotografie, nannte) würde bewegen müssen wie | |
ein Fisch im Wasser. Die Frau in der Straßenbahn war eigentlich sie selbst. | |
Am Sonntag ist sie mit 91 Jahren in Dresden gestorben. | |
13 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulf Erdmann Ziegler | |
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