# taz.de -- Bildwelten von Renate und Maria Jessel: Wovon träumen Erdmännchen? | |
> Das Sichtbare weiterdenken: Das verbindet die Bilder der Fotografin Maria | |
> und der Malerin Renate Jessel. Zu sehen in der Galerie F92 in Berlin. | |
Bild: Maria Jessel, „Kartenspieler“, Fotomontage | |
Bodo ist ein sehr unternehmungslustiges Erdmännchen. Er reist viel, durch | |
phantastische Räume, oft tief im Wasser oder im Wald gelegen, und durch | |
unterschiedliche Zeiten und kunsthistorische Räume. Gelegentlich verwandelt | |
er sich in Bodoline, oder ist sie seine Frau? Einmal sitzt Bodoline bei | |
einem Kartenspiel, mit einer lockigen Hirschkuh und einem Hund mit einem | |
Ehrfurcht gebietenden Rauschebart. Das Ambiente wirkt sehr barock. | |
Bodo und Bodoline sind keine Figur aus einem gezeichneten Comic, sondern | |
leben in den Fotomontagen von Maria Jessel. Die Kartenspielszene geht auf | |
ein Bild aus dem Spielkartenmuseum in Altenburg zurück. Bisher trat Bodo | |
vor allem in [1][Fotocommunitys im Internet] in Erscheinung; dort hat nicht | |
nur er viele Fans gefunden, sondern auch die Fotografin Maria Jessel, die | |
mit ihrer Kamera sehr viel in der Natur unterwegs ist und überall Material | |
für ihre Montagen sammelt. | |
Beinahe 30 Jahre lang hat Maria Jessel in der taz gearbeitet, | |
Fotobearbeitung am Rechner in der Repro. Als sie 2015 mit 65 Jahren aus der | |
taz ausschied, blieb der Computer ihr liebstes Werkzeug. Gleich nach dem | |
Aufstehen setzt sie sich daran, bearbeitet ihre Bilder, und kommt manchmal | |
kaum aus dem Haus. Das behauptet sie zumindest. | |
Was dabei entsteht, wie etwa aus Spiegelungen von Licht oder Bäumen im | |
Wasser skurrile und schräge Wesen Gestalt annehmen, kann man jetzt bis 18. | |
Dezember in der Galerie F92, im Stadtteilzentrum Prenzlauer Berg, sehen. | |
Dort stellt Maria Jessel aber nicht nur ihre eigenen Arbeiten aus, sondern | |
hat den besten Raum der Galerie genutzt, um Aquarelle ihrer Mutter Renate | |
Jessel, die 2004 gestorben ist, zu zeigen. | |
## Flucht ins Maritime | |
Renate Jessel war in der DDR eine vielbeschäftigte Illustratorin von | |
Kinder- und Jugendbüchern ab Ende der 1950er Jahre. Darunter waren | |
klassische Autoren wie Johann Peter Hebel oder Bettina von Arnim mit ihrem | |
Märchen „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“, aber auch oft Bücher, die den | |
pädagogischen Leitbildern der DDR entsprachen. Neben dieser Auftragskunst, | |
die über die Jahre mit ihren Stereotypen auch etwas ermüdete, entstanden ab | |
Ende der 1970er Jahre Ölbilder und Aquarelle, Ausflüge in surreale und | |
träumerische Welten. | |
Was jetzt in der Galerie dicht an dicht hängt, ist oft von maritimen | |
Motiven geprägt, von Muschligem und Fischigem, von Wellenbewegungen und | |
Krakenarmen, von Blasen und Sphären, die wie Kugeln kleine Welten | |
umschließen, von Segeln und Monden. Man blickt in versunkene und verborgene | |
Areale, aus denen aber nicht selten unheimlich viele Augen hervorschauen. | |
Beobachten einen die Bilder? Schauen sie zurück? Renate Jessels Bilder | |
erinnern an den [2][Surrealismus in der Malerei von Richard Oelze], der | |
damit auch Metaphern für den Rückzug in politisch belastenden Zeiten schuf. | |
Jessels Aquarelle sind nicht groß und doch dicht bepackt von ineinander | |
verwobenen Bildebenen. | |
Man findet mythische Elemente, wie eine Sphinx oder einen Stier, deren | |
Konturen sich aber erst langsam aus dem Spiel der Linien und Flächen | |
herausschälen. Je länger man schaut, desto mehr Details gibt es zu | |
entdecken. Alles scheint amorph, beseelte Materie. Gesichter tauchen auf | |
und haben sich beim nächsten Hinsehen wieder versteckt. Als ob das | |
Sichtbare und das Unsichtbare in ihnen gemeinsam Schabernack trieben. | |
Vielleicht sind diese manchmal auch bedrohlichen und nicht selten | |
nächtlichen Szenen so etwas wie der Kehrseite der vielen hellen und immer | |
verständlichen und vernünftigen Illustrationen in den Kinder- und | |
Jugendbüchern. Sie setzen das Vieldeutige an die Stelle des Eindeutigen, | |
das Verschlüsselte an den Ort des Gradlinigen. Die Illustrationen waren | |
zudem oft von einem kargen schwarzen Strich umrissen, während in Renate | |
Jessels unabhängiger Kunst die Farben aufblühen. | |
Was Renate Jessel und ihre Tochter Maria verbindet, ist die Lust am | |
Phantastischen. Auch Bodo begibt sich gern in die Tiefe, auch Maria liebt | |
die Fluchten ins Irreale. Und meistens ist es das Reale selbst, das sie in | |
ihren Bildern verzaubert. Eines ihres Lieblingsmotive in der Fotografie | |
sind Pilze, die bei ihr so zart scheinen, so leuchtend wirken, als hätte | |
man schon von geheimen Substanzen genascht, um diese Schönheit | |
wahrzunehmen. | |
21 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fotocommunity.de/fotografin/maria-j/35449 | |
[2] /Archiv-Suche/!1216831&s=Richard+Oelze&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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