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# taz.de -- Naturdokus im Kino: Dem Insekt ins Auge blicken
> „Der wilde Wald“ von Lisa Eder und „Das Tagebuch einer Biene“ von Den…
> Wells nähern sich der Natur von ganz verschiedenen Seiten.
Bild: Summ, summ, summ: Szene aus „Das Tagebuch einer Biene“
Was für ein Bild machen wir uns von der Natur? Zwei Dokumentarfilme, die
gerade gleichzeitig ins Kino kommen, zeigen, wie unterschiedlich die
Perspektiven sein können, aus denen mensch sich der uns umgebenden Fauna
und Flora nähert. „Das Tagebuch einer Biene“ von Dennis Wells nimmt sehr
konsequent eine Mikroperspektive ein, erkundet einen Kosmos, in dem alles
unglaublich viel kleiner ist als in unserer Menschenwelt, und begibt sich
auf Augenhöhe mit einem Insekt.
Ganz anders „Der wilde Wald“ von Lisa Eder: Darin richtet die Filmemacherin
den Blick auf die weitläufige Landschaft des Nationalparks Bayerischer
Wald, spürt vor allem dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur nach und
fragt danach, wie weit unsere Akzeptanz für das „Wilde“ geht. Es sind zwei
filmische Perspektiven, die sich diametral unterscheiden.
Kurz ist es, das Bienenleben. Gerade einmal sechs bis sieben Wochen lebt
eine Sommerbiene. Die [1][Winterbienen], die im Herbst schlüpfen und im
Stock überwintern, leben deutlich länger, mehrere Monate. Diese Winterbiene
lernen wir zuerst kennen in „Tagebuch einer Biene“. Sie kann sprechen, und
das sogar mit der Stimme von Anna Thalbach. Das Skript ist in Ichform
verfasst, denn dies ist ja ein „Tagebuch“.
Es ist schon ziemlich viel, was die erwachsene Zuschauerin da schlucken
muss an Vermenschlichung des Insekts; aber wenn man das Projekt unter dem
Label „Familienfilm“ betrachtet, ist diese Vorgehensweise prinzipiell
vertretbar. Das Identifikationsangebot ist definitiv kindgerecht, und die
Thalbach-Bienen (als Sommerbiene agiert Nellie Thalbach) wirken ungemein
sympathisch, wie sie so aus ihrem arbeitsreichen Leben erzählen. Dieses
lernen wir dadurch aus erster Hand kennen. Wir erleben das Schlüpfen des
Sommerbienchens ebenso hautnah wie das Abenteuer des ersten Honigflugs und
das große Drama, als das kleine Tier draußen vom Regen erwischt wird.
## Sensationelle Bilder
Die Bilder, die Dennis Wells und sein Kameramann Brian McClatchy dazu
eingefangen beziehungsweise erarbeitet haben, sind sensationell in ihrer
mikroperspektivischen Detailliertheit. Allerdings sind Teile des Films, wie
aus dem Nachspann hervorgeht, animiert. Bei manchen Dingen musste der Natur
nachgeholfen werden.
Es gibt Dinge, die man schlicht nicht filmen kann (zum Beispiel den Moment,
in dem die Biene sticht), was den Film als „Naturdoku“ auf jeden Fall
disqualifiziert und was man generell fragwürdig finden kann – ebenso wie
den reichlich kitschigen Soundtrack, der sowohl mit Streicherteppichen sehr
verschwenderisch umgeht als auch die lautliche Verstärkung des
Bienenflügelschlags hemmungslos übertreibt.
Auch die unfassbar idyllische Landschaft, in der der Bienenstock steht, ist
zweifellos einem Bildbearbeitungsprogramm zu verdanken. Den Stock
ausgerechnet unter einen Baum zu stellen, der aussieht, als habe Caspar
David Friedrich persönlich ihn gemalt, setzt dem Kitsch die Krone auf. Aber
nun gut, eine Menge über das Bienenleben gelernt haben wir trotzdem.
Es ist allerdings nicht leicht, an Caspar David Friedrich vorbeizukommen,
wenn es um das Bild geht, das wir uns von Natur machen. Auch in Lisa Eders
„Der wilde Wald“ gibt es eine Schlüsselszene, die ein Bild des Meisters der
Romantik evoziert, hier den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Doch Eder
inszeniert die Szene völlig anders, nicht als gefühlige Imitation, sondern
als doppelte Projektion dessen, wie der Mensch sich selbst in der
Landschaft wahrnimmt.
## Wilder Bayerischer Wald
Ein wiederkehrendes Element in ihrem Film sind Szenen mit dem Fotografen
Bastian Kalous, der allein zu Fuß den gesamten Bayerischen Wald durchquert
und sich dabei in gestellten Szenen mit einer Polaroidkamera selbst
fotografiert: inszenierte Momente der Einsamkeit in der, vielleicht auch
des ersehnten Einsseins mit der Natur. Und beim Bayerischen Wald handelt es
sich um eine Art von Natur, die einem Begriff von „Wildnis“ immerhin
zunehmend näherkommt.
Seit 1970 ist das Gebiet, zusammen mit dem Böhmerwald auf der anderen Seite
der deutsch-tschechischen Grenze, ein Nationalpark; also ein
Naturschutzgebiet mit weitreichenden Konsequenzen. Die Natur wird hier
seitdem sich selbst überlassen, weder Sturmschäden noch Trockenschäden
werden von Menschenhand beseitigt. Mehr noch: „Und dann war es zu
entscheiden, [2][den Borkenkäfer fressen zu lassen]“, wie der ehemalige
Nationalparkleiter Hans Bibelriether es im Interview nüchtern formuliert.
Das war eine sehr weitreichende Entscheidung, mit der er sich den geballten
Volkszorn einhandelte.
Eder zeigt Archivaufnahmen, in denen die wütende ortsansässige Bevölkerung
mit „Bibelriether weg!“-Transparenten für „ihren“ Wald demonstriert.
Berghänge über Berghänge voller toter Bäume, das ging ans Herz und an die
Nieren. Vor wenigen Jahrzehnten konnten die meisten Menschen sich nicht
vorstellen, dass die Natur sich ihr Terrain zurückerobern würde.
Im Nachhinein betrachtet sei die Verjüngung des Waldes aber sogar schneller
gegangen als erwartet, sagt eine Expertin im Film. Luftaufnahmen belegen,
wie zwischen alten toten Stämmen überall kräftiges Grün nachgewachsen ist.
## „Bad bugs“, Luchse und Wölfe
Es besteht nun einerseits die Hoffnung, dass die nachgewachsenen Bäume sich
als resistenter gegen den Borkenkäfer und andere Unbill erweisen als ihre
Vorfahren. Zum anderen, sagt die amerikanische Entomologin Diana Six,
müssten wir uns eben darauf einstellen, dass der Wald sich verändern werde.
Wir hätten den Klimawandel vorangetrieben und damit unter anderem auch dem
Treiben des Borkenkäfers Vorschub geleistet: „It’s not just the bad bug.
It’s us!“
Und dann gibt es noch die Diskussionen über das größere Getier. Wölfe sind
eingewandert in die Region; und aus Tschechien, wo sie gezielt ausgewildert
wurden, sind auch [3][wieder Luchse gekommen und haben eine neue Population
gegründet]. Auch der Zunahme dieser Raubtierpopulationen stehen viele
Menschen skeptisch gegenüber. Immerhin habe man den Wolf oder den Bären vor
hundert Jahren doch nicht ohne Grund ausgerottet, sagt ein Mann, der sich
am Rande eines eigentümlichen Volksfests vor der Kamera befragen lässt.
In den Film eingegangen sind Szenen vom traditionellen Wolfsaustreiben in
Bodenmais, einem dreihundert Jahre alten, von infernalischem Krach
begleiteten Brauchtum, bei dem ausschließlich Männer mitwirken und dessen
lautstarker Furor ahnen lässt, aus welcher Urangst heraus der martialische
Antiwolfsmarsch einst entstanden sein muss.
Lisa Eder lässt alle Stimmen zu Wort kommen, als Kronzeugen aber fungieren
jene, die an die selbstorganisierenden Kräfte der Natur glauben.
Interviews, Archivaufnahmen und herrliche Naturbilder wechseln sich ab. Und
zwischendurch immer wieder der Fotograf Bastian Kalous auf der Suche nach
der wahren Natur oder nach sich selbst oder nach dem nächsten ästhetisch
wertvollen Selfie. Der Mann mit dem Wanderhut und der großen Kamera
fungiert als Stellvertreter für uns alle in diesem vielschichtigen Film,
der zeigt, dass „die Natur“ oder „das Wilde“ auch immer das ist, was der
Mensch dazu macht.
3 Oct 2021
## LINKS
[1] /Norbert-Scheuers-Roman-Winterbienen/!5625208
[2] /Hitzefolgen-im-Fichtenforst/!5600571
[3] /Wilderei-in-Bayern/!5622975
## AUTOREN
Katharina Granzin
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