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# taz.de -- Saisonauftakt am Staatstheater Schwerin: Dickes M
> Fünf Premieren an zwei Tagen, alles dabei: Scheitern der Regie, Theater
> von vorgestern, vitaler Aufbruch und großer Erfolg.
Bild: Verschnarchtes Betroffenheitstheater: „Ünnerste Schuuwlaad“ mit Anna…
Schwerin taz | Apart sandfarben strahlt der Theaterplast. Das Foyer ist
frisch getüncht, heller illuminiert und neu vergoldet aller Zierrat, um der
zuletzt etwas verstaubten Aura des Traditionshauses wieder zu Glanz zu
verhelfen. Hatte sich das Staatstheater in Schwerin doch in den vergangen
fünf Jahren zu einem brodelnden Häufchen Elend verwandelt: Intendant Lars
Tietje gab den eisenharten Erfüllungshelden seines Sparauftrags, 42 Stellen
sollte er abbauen und mit einem nie erhöhten, also sinkenden Etat
auskommen.
Er versuchte mit einem möglichst populären Spielplan Geld in die Kassen zu
holen – kein Konzept, das Vertrauen nährte, sondern das Betriebsklima
ruinierte. [1][Tietje weine keiner eine Träne nach], heißt es im Haus nun.
Er ist im Sommer ans Stadttheater Bremerhaven gewechselt. Nachfolgender
Generalintendant ist Hans-Georg Wegner, der in Bremen und Weimar
erfolgreich Opernchef war.
Jetzt will er sich im „Landeshauptdorf“ Schwerin auf die Ära Christoph
Schroth beziehen: Der realisierte in den 1970er- und 1980er-Jahren ein
Volkstheater, das sich als öffentliches Forum der Selbstverständigung in
Opposition zur offiziellen PR verstand, in zeitgenössischen Stücken und
Klassikern die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft
durchspielte und dabei enttäuschte Hoffnungen, leere Utopien und aktuelle
Konflikte deutlich machte.
Wachsende Wut und Wendelust keimten in der Diagnose, dass da ein Staat von
innen zerbrösele. Derart nah am Zeitgeist war diese Bühnenkunst, dass davon
in Schwerin heute noch geschwärmt wird.
## Das „M.“ kommt wieder
Das Logo für Schroths Theater war ein schlankes M. Das greift Wegner nun
auf mit einem dicken, fetten M – wie Mecklenburg, Schwerin wurde aus dem
Namen getilgt. Trotzdem will Wegner auch Stadttheater sein. Weil Schwerin
[2][bundesweit führend] ist – bei der sozialen Segregation der Bevölkerung
– und das Theater im schmucken Zentrum neben dem Schloss und Landtag steht,
wird 2022 eine neue Spielstätte eröffnet: in der Plattenbausiedlung Großer
Dreesch.
Grundsätzlich bleibe Theater im Osten etwas Eigenes, sagt Wegner. „Hier
interessiert nicht der Wettlauf um die tollen Regisseure aus München und
Hamburg.“ Deswegen kommen in Schwerin beispielsweise dramatisierte
DDR-Filme auf die Bühne:
„Die Auseinandersetzung mit dem nostalgischen Blick, den ich verstehen
kann, aber überhaupt nicht teile“, so Wegner, selbst gebürtiger Dessauer.
Auch will er Opern von DDR-Komponisten zeigen, weil die keine
zeitgebundene, sondern zeitlos große Kunst seien – Projekte für eine
selbstbewusste Ost-Identität.
Den Neustart stützt die Politik: 21,8 Millionen des jetzt
25-Millionen-Etats kommen vom Land, das seinen Beitrag bis 2028 jährlich um
2,5 Prozent erhöht und in Parchim einen Neubau fürs Kinder- und
Jugendtheater für 40 Millionen Euro bezahlt; Eröffnung geplant für Dezember
2022. „Jetzt sind wir massiv besser finanziert als die Theater in
Schleswig-Holstein“, sagt der kaufmännische Geschäftsführer Christian
Schwandt, in gleicher Funktion von 2007 bis 2020 am Theater Lübeck.
## Fulminante Saisoneröffnung
„Mit [3][coronabedingt eingespartem Geld] können wir sogar vier bis fünf
neue Stellen schaffen.“ Zur monetären Euphorie kommt eine fulminante
Saisoneröffnung des Sechs-Sparten-Hauses mit fünf Premieren an zwei Tagen.
Alles dabei: Scheitern der Regie, Theater von vorgestern, vitaler Aufbruch
und großer Erfolg.
Nicht groß erneuert wurde das Schauspiel – „weil ich das total klasse
fand“, so Wegner. Also blieben Dramaturgie sowie viele Regisseur- und
Schauspieler:innen. Zur Saisoneröffnung bekam die zum fünften Mal
engagierte Alice Buddeberg die große Bühne für einen Klassiker des
poetischen Realismus: Marcel Carnés „Die Kinder des Olymps“ (1944).
Kolleg:innen inszenieren den Stoff gerne als romantisch-karnevaleske Ode
an die Theater-Bohéme; das „Kommen Sie, staunen Sie“ der Conférencière
bezieht sich in Schwerin aber erst mal auf die Ausstattung:
Mit schwarzen Strichen auf weißem Knitterpapierkostümen sind historische
Körperverhüllung skizziert. Auch die Requisiten sind schwarz auf weiße
Pappe gemalt – sieht gut aus, wie Schwarz-Weiß-Film. Zirzensische,
akrobatische, pantomimische, komische Szenen und schön designte Bilder
wechseln sich ab. Aber das Ensemble unterspielt teilweise die Dialoge,
große Gefühle werden recht äußerlich dargeboten, die Poesie des Stoffes
wirkt skelettiert, dafür ist die Backstage-Komödie betont.
So kann Buddeberg anderthalb Stunden lang nichts Konkretes mit der Vorlage
anfangen – um dann zu zeigen, dass alles nur Ausgangspunkt war für
Grundsätzliches zur mimetischen Kunst, den Problemen beim Filmdreh im
damals deutsch besetzten Frankreich sowie den heutigen Arbeitsbedingungen
am Theater.
## Nirgends ein Gedankenfunken
Seine Schauspieler:innen spielen die eines Films, die wiederum welche
am Theater –und dort ihre Rollen – spielen, dazu scheitern unterschiedliche
Liebeskonzepte. Zwischen diesen Ebenen springt die Regie formschön hin und
her, aber nirgends leuchtet ein Gedankenfunken, zündet eine Idee. Buddeberg
verliert völlig den roten Faden und damit alle Energie – eine drei Stunden
sich hinziehende Enttäuschung.
Das Junge Staatstheater zeigt zur Eröffnung Karin Epplers „Die bleiche
Sophie“: Teeniekeck verloren erzählt Arikia Orban darin von der
Überforderung in der Schule, dem ersten Kuss und den Eltern, die nie Zeit,
aber immer Streit haben. Den recht klischeehaften Text derart ungebrochen
und Scheidungskindernöte sowie Pubertät ohne Interaktion als putziges
Gespenstermärchen zu monologisieren: eine Reise ins Kindertheatermuseum.
Nicht besser zeigt sich die plattdeutsche Fritz-Reuter-Bühne: Vollgestopft
ist die Spielfläche mit Realismus behauptenden Requisiten, dazu gibt es
meist kraftmeiernd übertriebenes Spiel und monoton strahlende Artikulation.
Während drei Straßenecken vom Theater entfernt die AfD echte
Wähler:innen rekrutiert, lässt Michael Ramløses „Ünnerste Schuuwlaad
links“ ein Geschwisterpaar unterm Dachbodenstaub das Bekenntnis des
Nazi-Opas entdecken, Lessings „Nathan der Weise“ und Briefe von Omas
jüdischem Freund lesen, dazu tröpfelt sanfter Klezmer aus den Boxen –
muffig verschnarchtes Betroffenheitstheater.
## Starke Tänzer:innen
Komplett neu aufgestellt ist die Tanzsparte: Xenia Wiest, zuletzt Tänzerin
am Berliner und dem Hannoveraner Staatsballett, hat ein technisch
eindrucksvolles, ausdrucksstarkes, reizvoll diverses Ensemble
zusammengestellt. Sehr ballettös agierende Tänzer:innen treffen auf eher
sportiv-moderne Bewegungskünstler:innen, Spitzentanz begegnet also
expressiv-ruckartiger Gestik und raumgreifender Exaltation.
Das Mit- und Gegeneinander der Ausdrucksmöglichkeiten verstärkt die
Spannung, wenn personifizierte apokalyptische Reiter – Krieg, Krankheit,
Hunger und Tod – einen Menschen zum Geflüchteten machen; „Nacht ohne
Morgen“ ist die Choreografie betitelt. Starke Bilder und Pas de deux
gelingen Wiest, weniger überzeugend sind die Ensembleszenen. Aber zwischen
klassischer Grazie, zeitgenössischer Eleganz und inhaltlichem Wollen
offenbart diese Sparte enormes Zukunftspotenzial.
Zum Finale die runderneuerte Oper. Als „unser Konzept“ bezeichnet es
Wegner, „nicht die üblichen Repertoirestücke zu spielen, sondern neue und
vergessenen Opern zu entdecken“, und dabei neben dem Singen „auch als
Vollblutschauspieler agieren zu wollen“ – das habe „viele überzeugt, sod…
wir ein herausragendes Ensemble haben“.
## Apokalyptische Bläser
Den Beweis führt die erste Premiere: Operndirektor Martin Berger inszeniert
Györgi Ligetis modernen Klassiker „Le Grand Macabre“. Als um sich selbst
drehende Gesellschaft rotiert das Publikum in einem bilderflutenden Rondell
aus Bühnen und Leinwänden. Zur 360-Grad-Bespielung ertönt die Musik aus dem
Zuschauerraum.
Das dort platzierte Orchester geht Ligetis anarchische Lust am Persiflieren
von Liebesduetten, apokalyptischen Bläsern oder Fundstücken von der
Opernmüllhalde allerdings etwas zu verbissen an, während zwischen den
Besucher:innen Go-go-Girls tanzen. Ein hinzuerfundener Comic-Nerd
fantasiert das Geschehen um den muskelgeblähten Terminator Nekrotzar, der
in animierten Videos sowie live Jüngstes Gericht und Weltuntergang
verkündet.
Während auf den Bühnen vereinzelte Menschen medial berieselt
dahinvegetieren, sich dem Suff ergeben oder per Sex verlorene Nähe
wiederherstellen wollen, versucht ein lächerlicher Fürst von der
Theaterloge aus mit populistischer Wut- und Angstmacherei sein Steuer- und
Disziplinierungsprogramm zu propagieren.
Grelles, totales Theater als mitreißendes Spektakel: Es trifft den
farcenhaft bis grotesken Duktus der Oper, übertreibt ihre Grobheiten, auch
das Performative in die Travestie. Zum Finale allerdings fällt die
Zerstörung aus – und nach der Pandemie allgemeiner Verunsicherung und
Entfremdung wird das Publikum zur Feier des Lebens animiert, so heiter und
ausgelassen, wie es eben geht. Verheißungsvolles Statement der Opernsparte
– und furioser Ausklang des Premierenmarathons.
2 Oct 2021
## LINKS
[1] /Umstrittener-Theaterintendant/!5703461
[2] https://www.lpb-mv.de/themen/stichwort/studie-wie-bruechig-ist-die-soziale-…
[3] /Theater-im-Krisenmodus/!5671697
## AUTOREN
Jens Fischer
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