| # taz.de -- SPD-Kandidatin Giffey in Berlin: Regierende Kindergärtnerin | |
| > Franziska Giffey kann mit Menschen. Sie hat aber auch eine strenge Seite | |
| > – als Bremserin etwa beim Klimaschutz. Wird sie so Berliner | |
| > Bürgermeisterin? | |
| Bild: Sommerfest mit Sprudel: Franziska Giffey zu Gast in einer Kleingartenanla… | |
| Berlin taz | „Das ist doch toll, dass ihr euch für die Kinder im Bezirk | |
| einsetzt“, sagt Franziska Giffey und lächelt. Die Kinder im Spielhaus in | |
| der Charlottenburger Schillerstraße lächeln zurück. Sie engagieren sich im | |
| Kinder- und Jugendparlament im Bezirk und freuen sich über das Lob der | |
| SPD-Politikerin, die nach der Wahl am 26. September als Regierende | |
| Bürgermeisterin ins Rote Rathaus einziehen will. Zwei von ihnen bekommen | |
| zur Belohnung noch ein Selfie mit Giffey. | |
| „Schön, dass ihr da seid“, sagt Franziska Giffey, als sie mit Olaf Scholz | |
| auf dem Berliner Bebelplatz den Straßenwahlkampf der SPD in der Hauptstadt | |
| startet. Natürlich lächelt sie. Vermutlich würde sie gerne auch jemanden | |
| aus der Menschenmenge auf die Bühne holen, doch das würden ihr die | |
| Sicherheitskräfte nicht erlauben. Also geht die 44-Jährige, die mit ihrer | |
| Hochsteckfrisur so viel älter wirkt, verbal auf ihr Publikum zu, umgarnt es | |
| mit warmen Worten und einladenden Gesten. Zugewandt sei Giffey, heißt es | |
| manchmal bewundernd. | |
| Das ist die freundliche Seite der Franziska Giffey. Ihre unfreundliche hat | |
| sie vor Kurzem erst den Grünen und Linken gezeigt, mit denen die SPD in | |
| Berlin seit 2016 regiert. Kurz vor ihrer Verabschiedung trat die | |
| Spitzenkandidatin der SPD die neue Berliner Bauordnung in die Tonne. Zwei | |
| Jahre Verhandlungen waren im Eimer, nun gibt es in Berlin keine Pflicht für | |
| Dach- und Fassadenbegrünungen. Giffey kann auch Basta. | |
| Lächeln und, wenn es nötig ist, Grenzen setzen. Die ehemalige | |
| Schulstadträtin im Berliner Problembezirk Neukölln und spätere | |
| Bundesfamilienministerin wirkt auf ihren öffentlichen Auftritten weniger | |
| wie eine Politikerin als eine Pädagogin. Wer sich an die Regeln hält, an | |
| ihre Regeln, wird belohnt. Das Beispiel mit der Bauordnung zeigt, dass sie | |
| auch Rügen verhängen kann. Politik als subtile Kunst des Erziehens. Kein | |
| Wunder, dass Giffey vor ihrem Einstieg in die Politik Lehrerin werden | |
| wollte. | |
| ## Giffey hat den Wahlkampf gerockt | |
| Inzwischen ist die Frau, die mit ihrem blauen Kostum von gefühlt jedem | |
| zweiten Laternenmast der Hauptstadt auf die Berlinerinnen und Berliner | |
| herabschaut, ein Phänomen. Als sie im vergangenen November erst zur | |
| Landeschefin der Berliner SPD und dann zur Spitzenkandidatin gekürt wurde, | |
| dümpelte ihre Partei mit 15 Prozent vor sich hin. Ganz vorne lagen, | |
| scheinbar uneinholbar, die Grünen. | |
| Sollte es zu einer Neuauflage der Koalition zwischen SPD, Linken und Grünen | |
| kommen, hieß es damals, müsse man das Bündnis nur von R2G in G2R | |
| umbenennen. Im Roten Rathaus säße dann mit [1][Bettina Jarasch eine Grüne]. | |
| Inzwischen hat sich die Lage geändert. Zwar liefern Umfragen kein | |
| eindeutiges Bild: So sieht die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer gerade | |
| veröffentlichten Umfrage SPD und Grüne nahezu gleichauf, während etwa bei | |
| Civey die Genossen auf 25 Prozent und die Grünen nur auf 15 Prozent kamen. | |
| Die Richtung ist aber klar: Die SPD hat in den vergangenen Wochen deutlich | |
| aufgeholt. | |
| Giffey hat den Wahlkampf gerockt und den Sozialdemokraten jede Menge | |
| Optionen eröffnet. Rot-Rot-Grün gehört nach wie vor dazu, aber auch eine | |
| Ampel mit Grünen und FDP sowie eine Deutschlandkoalition aus SPD, CDU und | |
| FDP. | |
| Nicht nur bei den Grünen reiben sie sich inzwischen die Augen und fragen: | |
| Wie hat die das geschafft? Was ist ihr Erfolgsgeheimnis? | |
| ## Das Endlich-loslegen-und-anpacken-Wollen | |
| Anders als im Bund und bei Olaf Scholz geht es bei Giffey nicht um | |
| Seriosität. Auffallend im Vergleich mit ihren MitbewerberInnen bei Grünen, | |
| Linken und CDU ist vor allem die Energie, die sie ausstrahlt, dieses | |
| Endlich-loslegen-und-anpacken-Wollen. Wenn sich die Wählerinnen und Wähler | |
| dann noch daran erinnern, dass sie auch als Neuköllner | |
| Bezirksbürgermeisterin und als Bundesfamilienministerin losgelegt und | |
| angepackt hat, erklärt das einen Trend, der wahrscheinlich nicht mit einem | |
| Sympathiewert zu verwechseln ist. Man kann Giffey zutrauen, Probleme zu | |
| lösen, ohne sie sympathisch finden zu müssen. | |
| Vielleicht ist das die Frage nach der Kür, die die SPD in den vergangenen | |
| Wochen hingelegt hat. Aber auch mit ihrem Pflichtprogramm kann sie offenbar | |
| punkten. Die Notbremsen beim Klimaschutz und bei der Verkehrswende, die | |
| Giffey zuletzt zum Entsetzen der Grünen gezogen hat, mögen in den grünen | |
| Hochburgen Friedrichshain-Kreuzberg oder Mitte Stimmen kosten. | |
| Außerhalb des S-Bahn-Rings, da, wo die Mehrheit der Berlinerinnen und | |
| Berliner lebt, kommen sie offenbar gut an. Es sind Bezirke wie Spandau, | |
| Treptow-Köpenick oder Marzahn-Hellersdorf, die von einem dicht getakteten | |
| Netz an U-Bahnen, S-Bahnen und Trams nur träumen können. Es sind aber auch | |
| die Bezirke, in denen die Menschen Angst haben, abgehängt zu werden. Mit | |
| ihrem Slogan „Ganz sicher Berlin“ will Giffey sie nicht der AfD und der | |
| Linken überlassen, sondern sie für die SPD zurückgewinnen. „Sicherheit“, | |
| sagt sie [2][im taz Talk am 9. September], „meint sowohl innere als auch | |
| soziale Sicherheit.“ | |
| Diesen politischen Strategiewechsel, der schon Olaf Scholz bei den Wahlen | |
| in Hamburg zum Erfolg geführt hat, haben Giffey und ihr | |
| Co-Landesvorsitzender Raed Saleh früh und strategisch klug eingefädelt. | |
| Bereits im Herbst vergangenen Jahres hat [3][Saleh im Gespräch mit der taz] | |
| angedeutet, dass es in Berlin keinen Koalitionswahlkampf geben werde. | |
| Stattdessen wolle man den Grünen Grenzen setzen. | |
| ## Es droht mehr „SPD pur“ in der Regierung | |
| Seitdem vergeht kaum ein Interview, in dem Saleh nicht mit einem Seitenhieb | |
| gegen die Grünen ätzt. Mal ist es der Latte macchiato, den sich die | |
| Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner nicht leisten könne. Mal ist es die | |
| Krankenschwester aus Spandau, die nicht mit Bus und U-Bahn zur Arbeit | |
| fahren mag, weil es nachts zu unsicher sei. Und nun, so die Erzählung, | |
| wollen ihr die Grünen auch noch das Auto wegnehmen. | |
| Giffey selbst ist da weniger polemisch. Im Kern aber geht es beiden um | |
| dasselbe. Die SPD so stark machen, dass sie in Gesprächen mit den anderen | |
| Parteien nach der Wahl einen Großteil ihrer Forderungen umsetzen kann. | |
| Für die Klima- und Verkehrswende in Berlin wäre das ein Rückschlag. Nicht | |
| so sehr, weil die grüne Verkehrs- und Umweltsenatorin Regine Günther einen | |
| guten Job gemacht hätte. Vieles von dem, was die Grünen 2016 in die | |
| Koalitionsvereinbarung mit SPD und Linken hineinverhandelt haben, ist erst | |
| in Ansätzen sichtbar. Am deutlichsten wird das bei den Radwegen. Hätte | |
| Corona nicht den Pop-up-Radweg möglich gemacht, würde die grüne | |
| Verkehrsbilanz desaströs ausfallen. Nun aber droht bei einer Neuauflage des | |
| Bündnisses mehr „SPD pur“ in den Vertrag zu kommen. Kopenhagener | |
| Verhältnisse scheinen für Radelnde in Berlin weiter entfernt denn je. | |
| Noch problematischer könnte es werden, wenn Franziska Giffey wahr machen | |
| sollte, was ihr Grüne und Linke seit geraumer Zeit unterstellen – und ein | |
| Bündnis mit CDU und FDP einginge. Dann droht Berlin wieder eine Betonstadt | |
| zu werden, während andere Metropolen wie Paris ihren Vorsprung in Sachen | |
| Klimafreundlichkeit ausweiten. Eine „Populistin“ nennt Giffey deshalb die | |
| linke Landeschefin Katina Schubert im taz-Interview. | |
| ## Potentielles Problem für Giffey: Der Volksentscheid | |
| Und die SPD-Basis? Die hält still. Im Wahlprogramm ist der Rechtsruck zwar | |
| herauszulesen, aber so wohl dosiert, dass es bei den Genossinnen und | |
| Genossen keinen nennenswerten Widerstand gab. Außerdem beflügeln die | |
| Umfragewerte auch die SPD-Wahlkämpfer in jenen Bezirksverbänden, die als | |
| links gelten, sich aber dennoch über ein gutes Ergebnis – und die damit zu | |
| vergebenden Posten – freuen. Geschlossenheit lautet deshalb die Devise. Und | |
| abwarten, was die Wählerinnen und Wähler entscheiden. | |
| Ob die SPD dann ihre Politik Grünen und Linken diktiert oder CDU und FDP, | |
| scheint derzeit nachrangig. Die Partei hat sich ihrer Spitzenkandidatin | |
| ausgeliefert. Im Spielzimmer der Regierenden Kindergärtnerin ist es | |
| mucksmäuschenstill. | |
| Noch aber ist die Wahl für Giffey nicht gelaufen. Ausgerechnet die von | |
| Mietenexplosion und Verdrängung betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner der | |
| Innenstadtbezirke könnten Giffey nach dem 26. September vor eine mission | |
| impossible stellen. Sollte die Mehrheit beim gleichzeitig zur Wahl | |
| stattfindenden Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ für eine | |
| Vergesellschaftung großer privater Wohnungsbestände stimmen, hätte Giffey | |
| ein Problem. | |
| In einem Bündnis mit Grünen und Linken hätten dann diejenigen die Oberhand, | |
| die nicht wie die SPD alles aufs Bauen setzen, sondern auch auf Regulierung | |
| und Rekommunalisierung. Eine Deutschlandkoalition dagegen birgt die Gefahr | |
| einer Spaltung der Stadt. | |
| Mit Zugewandtheit und Strenge lässt sich vielleicht ein Kindergarten | |
| regieren, aber keine lebendige und oft anarchische Metropole. Vielleicht | |
| muss die Kindergärtnerin und Pädagogin Franziska Giffey doch mehr | |
| moderieren, als ihr lieb ist. | |
| 17 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gruene-Jarasch-ueber-Berliner-Wahlkampf/!5794582 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=mFbMuHJhQj8 | |
| [3] /SPD-Fraktionschef-im-Interview/!5789119 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| Franziska Giffey | |
| Regierende Bürgermeisterin | |
| SPD | |
| Bettina Jarasch | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| R2G Berlin | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| Bettina Jarasch | |
| R2G Berlin | |
| Franziska Giffey | |
| Mietenwahnsinn | |
| Künstlerinnen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Regierungsbildung in Berlin: Machtkampf auf offener Bühne | |
| Hat Rot-Grün-Rot noch eine Chance? Am Montag beginnt die Berliner SPD die | |
| Sondierungen für eine Ampel und ein Bündnis mit Grünen und Linken. | |
| +++ Wahlen in Berlin +++: Enteignung und Giffey vorn | |
| Franziska Giffeys SPD gewinnt die Abgeordnetenhauswahl. Für DW Enteignen | |
| zeichnet sich ein deutlicher Sieg ab. Alle News im Ticker. | |
| Berliner Koalitionsoptionen: Richtig links wählen | |
| Laut den Umfragen sind in Berlin drei Dreierkoalitionen denkbar. | |
| Strategisches Wählen ist dabei eine interessanter Gedanke, aber auch sehr | |
| riskant. | |
| Berlin kauft knapp 15.000 Wohnungen: Schlussverkauf vor der Enteignung | |
| Kurz vorm Enteignungs-Volksentscheid kauft der Senat der Deutschen Wohnen | |
| und Vonovia für 2,4 Milliarden Euro Wohnungen ab. Der Deal stößt auf | |
| Kritik. | |
| Neue Umfrage für Berlin-Wahl: Grüne und SPD gleichauf | |
| Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die SPD bei 21 Prozent, die Grünen bei | |
| 20. Damit ist ein Sieg von Franziska Giffey nicht mehr sicher. | |
| Generaldebatte im Abgeordnetenhaus: Time to say Goodbye | |
| In der letzten Sitzung vor der Wahl herrscht Abschiedsstimmung im | |
| Parlament. Regierungschef Müller attackiert die neue AfD-Frontfrau. | |
| Kehrtwende der Landesregierung: Die Ausnahme bestätigt die Regel | |
| Der Senat korrigiert seinen 2G-Beschluss und baut Sonderregel für Kinder | |
| ein, nachdem auch SPD-Spitzenkandidatin Giffey Änderungen forderte. | |
| Spitzenkandidaten bei der Mietenbewegung: In der Höhle der Löwen | |
| Die Kandidaten der Parteien stellen sich den kritischen Fragen der | |
| Bewegung. Antworten und Konzepte bleiben aber die Ausnahme. | |
| Benachteiligung von Künstlerinnen: Schieflage im Kunstbetrieb | |
| Der Gabriele-Münter-Preis für Künstlerinnen ab 40 wird nicht wie geplant | |
| ausgelobt. Franziska Giffey sagte die Unterstützung erstmal ab. |