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# taz.de -- Wahlkampf 2021: War das jetzt wirklich so schlimm?
> Es gab Fake News in diesem Wahlkampf. Doch wer sich informieren wollte,
> konnte das besser als früher. Drei Ansichten zum medialen Geschehen.
Bild: Zerstörte Wahlplakate im Siegerland
## AfD-Wahlkampf kein Gedicht
Die größte Aufmerksamkeit erzielte die AfD in diesem Wahlkampf in dem
Moment, als ihr Spitzenkandidat Tino Chrupalla sich [1][im Interview mit
einem ZDF-Kinderreporter blamierte.] Chrupalla forderte, mehr deutsche
Gedichte in den Schulen zu behandeln – und wurde umgehend vom 13-jährigen
Nachwuchsreporter Alexander ausgekontert: „Welches ist denn ihr
Lieblingsgedicht, Herr Chrupalla?“ Ihm fiel nicht ein einziges ein. Der
gelernte Malermeister Chrupalla, parteiinterner Spitzname „Pinsel“
(durchaus auch böswillig konnotiert als „Einfaltspinsel“), machte seinem
Namen alle Ehre.
Die Szene ist ein Sinnbild des AfD-Wahlkampfs: Abgesehen von den üblichen
rassistischen Ressentiments und verschwörungsideologischen Geraune auf den
eigenen sozialen Kanälen [2][war für die AfD bisher nichts zu holen.] In
Umfragen stagniert die Partei. Das liegt auch daran, dass der Medien-
ebenso wie der Politikbetrieb dazugelernt haben und nicht jedes Mal
Grundsatzdebatten über die Grenzen der Sagbarkeit anstoßen, wenn
AfDler*innen mit Ungeheuerlichkeiten versuchen, den Diskurs nach rechts
zu erweitern.
Stattdessen begleiten die AfD in diesem Wahlkampf zuverlässig Skandale.
Medien haben in allen Feinheiten herausgearbeitet, dass die
Wunschkandidat*innen des extrem rechten Parteiflügels, Alice Weidel
und Chrupalla, kein Problem damit haben, im kommenden Bundestag in einer
Fraktion mit dem NRW-Kandidaten Matthias Helferich zu sitzen. Sie stimmten
gegen dessen Parteiausschluss, obwohl er in Chats ein Foto von sich selbst
mit „das freundliche Gesicht des NS“ bezeichnet und den berüchtigten
NS-Richter Roland Freisler als Vorbild genannt hatte.
[3][Dazu sorgte eine mehrjährige Recherche zu einem Netzwerk um den
dubiosen Politikberater Tom Rohrböck] auch intern für Schockwellen, ein
weiterer Spendenskandal wurde noch in dieser Woche aufgedeckt, während ein
Verfahren gegen die andere Spitzenkandidatin Alice Weidel in Konstanz immer
noch anhängig ist. Medien haben neben den obligatorischen internen
Grabenkämpfen herausgeschält, dass die AfD in ihrem Handeln exakt die
Vorurteile bestätigt, mit denen sie den demokratischen Parteien begegnet.
Zu Beginn des Wahlkampfs hatte die AfD einen Knigge für Auftritte
festgelegt. Man solle von Schlagwörtern wie Lügenpresse absehen, nüchtern
sein und sich halbwegs körperlich pflegen, um den Wirkungsraum der AfD zu
erweitern. Gut produzierte Hochglanz-Werbespots können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Letzteres der AfD nicht gelungen ist. Nicht einmal,
als sie kurz hoffte, Migration könne als politisches Thema im Zuge der
Afghanistankrise wieder eine Rolle spielen. Der Skandal ist für die
Mehrheit der Bevölkerung, dass zu wenig Menschen gerettet wurden, für die
AfD waren es noch zu viele.
Zumal die meisten Menschen erkannt haben dürften, dass man schlecht gegen
Physik und Naturgesetze argumentieren kann. Wenn die AfD mal Sendezeit
bekam in Sommerinterviews oder Fernsehduellen hatte sie zu den Auswirkungen
der Klimakatastrophe oder der Bekämpfung der Coronapandemie nichts
Gehaltvolles beizutragen. Gleichzeitig bleibt es natürlich erschreckend,
dass eine Kernwählerschaft gerade wegen dieses neoliberal-rassistischen
Markenkerns der Partei treu bleibt. [4][Gareth Joswig]
## An der Glotze gescheitert
Zum auslaufenden Wahlkampf und seiner medialen Begleitung kann man
sinnvollerweise nur zwei Thesen vertreten: Nämlich erstens, dass es, was
die Kenntlichmachung der Kanzlerkandidatinnen angeht, ein überaus
erhellender Wahlkampf war – und möglicherweise ja auch noch ist; und dass
zweitens Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo absolut recht hatte, als er
[5][im Gespräch mit Markus Lanz und Jan Böhmermann], das, was wir gerade
erleben, so charakterisierte: „Ich empfinde diesen Wahlkampf als den
friedlichsten, an den ich mich erinnern kann.“
Der im Angesicht von Tod und Verwüstung fröhlich-feixende Kandidat Armin
Laschet, der sich dann nach überstandenem ersten Triell „wie ein Kind beim
Vater“ (Der Spiegel) dem CDU-Granden und hessischen Ministerpräsidenten
Volker Bouffier an die Brust wirft – das sind ikonische Bilder
uninszenierter Menschlichkeit, die einen in Deutschland für das wichtigste
Staatsamt ebenso unmöglich machen wie die Unfähigkeit der Kandidatin
Annalena Baerbock, [6][„ihr einziges Kleinod“, das sie in diesem Wettkampf
hatte, zu schützen – „nämlich die eigene Glaubwürdigkeit“ (Bettina Gau…
Unter dem tatsächlich fast unmenschlichen Stress der Dauerpräsenz und
Beobachtung, in die neben den etablierten Medien diesmal [7][auch die
privaten TV-Sender groß einstiegen], erwies sich das zu Beginn der Kampagne
als Selbstläufer eingeschätzte schwarz-grüne Regierungsprojekt („Wir
gewinnen sowieso“, Wolfgang Schäuble laut WamS im Frühjahr) als Bündnis von
verwöhnten Epigonen, die einfach nicht damit rechneten, dass ihnen jemand
ihr Erbe wegnehmen könnte – sei es bei Laschet das der Merkel-Nachfolge,
sei es bei Baerbock jenes des unzweifelhaften Pfunds der Grünen, als erste
etablierte politische Kraft in Deutschland die Klimakatastrophe
thematisiert zu haben.
Die aus dieser an Arroganz grenzenden Selbstsicherheit erwachsene
Fehlentscheidung, zu glauben, es sich leisten zu können, bei der
Kandidatenkür nur die jeweils zweitbeste Wahl zu treffen, hätten die Bilder
der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz noch
korrigieren können: Doch Laschet hatte sich nicht im Griff, und die Grünen
mussten feststellen, dass die Menschen sogar und vielleicht sogar gerade in
der Apokalypse eben nicht einfach bereit sind, sondern geduldig,
glaubwürdig und sozial gerecht auf die fundamentalen Änderungen vorbereitet
werden müssen, die ihnen in den nächsten Jahren bevorstehen.
Die stärksten Bilder dieses Wahlkampfs lieferte also die Realität,
lieferte die Glotze – und da haben wir von Kabul noch gar nicht gesprochen
–, und vor dieser versagte das grün-schwarze Projekt. Analysen und
Befürchtungen, [8][ein im stetigen Abschwung befindliches Imperium von Bild
und BamS] könne durch Schmutzkampagnen wesentlich Einfluss nehmen, haben
sich bisher nicht bewahrheitet; und ein in den Wahlkampf geworfenes Bild-TV
konnte mit seiner Produktionsästhetik eines 80er-Jahre-Provinzpuffs schon
allein quotenmäßig nichts reißen.
Die Zukunft ist aber schon da. Wer sich das zweite Triell im
kommentierenden, interaktiven Stream von CDU-Zerstörer Rezo ansah,
versteht, was Böhmermann im oben erwähnten Zeit-Gespräch meinte, wenn er
von der Notwendigkeit „größerer Erzählungen“ sprach. Die Jüngeren forde…
diese ein, sie sind auf den sozialen Medien dabei gleichzeitig Besteller
und Macher, Sender und Empfänger. Noch sind sie schlicht zu wenige, aber
kommende Wahlkämpfe könnten ganz andere, inhaltliche Höhepunkte bieten als
nur umgefallene Stühle in rumpeligen TV-Studios. In einen solchen
analytischen Wahlkampf käme dann vielleicht auch ein
Olaf-Hartz-IV-Brechmittel-G20-CumEx-Wirecard-FIU-Scholz nicht ganz so glatt
ins Ziel. [9][Ambros Waibel]
## In Teilen immer noch Neuland
Nein, Annalena Baerbock [10][will kein Verbot von Haustieren zugunsten des
Klimas einführen.] Und Spendenskandale hin oder her, die Spenden für
Flutopfer [11][gingen nicht in Armin Laschets Wahlkampftopf.] Solche oder
ähnliche Falschmeldungen kursieren im Wahlkampf zur Genüge im Netz.
Gleichzeitig informieren sich immer mehr Wähler:innen dort:
Parteiprogramme vergleichen, (Live)-Debatten verfolgen oder sich die
Wahlentscheidung über den Wahl-O-Mat abnehmen lassen – all das passiert im
Internet.
Das Phänomen von Social Bots und Falschmeldungen speziell in den sozialen
Netzwerken ist kein neues. Spätestens seit dem US-Wahlkampf 2016 sind sich
Politiker:innen und Expert:innen des Problems bewusst. Und doch ist
es auch in diesem Jahr nicht unter Kontrolle zu bringen. Das Problem von
Falschmeldungen ist dabei eindeutig, bei [12][Social-Bots] ist das nicht
der Fall. Denn es muss zwischen Bots, die für Serviceaufgaben eingesetzt
werden sowie solchen, die Propaganda verbreiten oder politische Stimmungen
verstärken sollen, unterschieden werden.
„Bot“ steht als Kurzform des englischen Begriffs „Robot“. Grundsätzlich
handelt es sich also um Computerprogramme, die automatisiert bestimmte
Aufgaben erfüllen. Ein Service-Bot wäre Siri im iPhone. Gefährlich wird es,
wenn Meinungs-Bots in sozialen Netzwerken eingesetzt werden. Diese können
auch menschliche Identitäten in Fake-Accounts vortäuschen und in
Kommentarspalten falsche Behauptungen verbreiten. Die beiden Topthemen in
Sachen Falschmeldungen in diesem Jahr: Corona sowie die Legitimität der
Briefwahl [13][und damit einhergehende Betrugsvorwürfe.]
Im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 sind laut Experten dieses Jahr
[14][besonders viele Fake News im Umlauf]. Auch Verfassungsschutz und
Bundeswahlleiter haben bereits vor Desinformation zur Wahl gewarnt. Lange
hieß es, Angriffe von auswärtigen Geheimdiensten auf die Bundestagswahl
hielten sich noch in Grenzen – was auch immer das genau bedeuten mag.
Nun aber wurde bekannt, dass bislang Unbekannte [15][erfolgreich Server des
Bundeswahlleiters angegriffen haben.] Der ist verantwortlich für die
Organisation und Überwachung von Wahlen auf Bundesebene. Bei dem Angriff
Ende August wurde die Webseite bundeswahlleiter.de mit extrem vielen
Anfragen aus dem Internet bombardiert. Unter der Datenlast brachen die
Server zusammen, die Website war zwischenzeitlich nicht erreichbar.
So kommt die Frage auf, ob es dieses Jahr schlicht so schlecht läuft wie
immer. Fairerweise muss man sagen, es gibt sie, die kleinen Schritte zum
Thema Cybersicherheit. Ein paar Social-Media-Plattformen wie [16][Facebook]
beispielsweise arbeiten bereits eng mit den deutschen Sicherheitsbehörden
zusammen, um mögliche Einflussnahmen und Fake-News-Kampagnen früh zu
erkennen und abzustellen. Nach viel Kritik ist Facebook Kooperationen
eingegangen, zum Beispiel mit der Bundeszentrale für politische Bildung. In
einem neuen Webangebot erfahren Menschen eine Menge über die Wahlen und
Demokratie an sich – und das in mehreren Sprachen. Und das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik schult mittlerweile
Bundestagskandidat:innen in Sachen Cybersicherheit. Schon 2016
erklärten die Parteien, im Wahlkampf auf Social-Bots zu verzichten.
Müssen wir uns also jetzt einfach mit all dem abfinden und hoffen, dass
unsere nächste [17][Bundesregierung das mit diesem Internet] endlich mal
ernst nimmt? Schließlich möchte ja niemand mehr auf die digitalen Angebote
und Möglichkeiten verzichten. Die Antwort lautet vermutlich: ja – warten
und hoffen: Auch darauf, dass Datenschützer:innen weiterhin penetrant
auf Probleme hinweisen; und darauf, dass einem Großteil der Bevölkerung
bewusst ist, dass nicht alles, was in diesem Internet steht, wahr ist.
[18][Malaika Rivuzumwami]
19 Sep 2021
## LINKS
[1] https://www.zdf.de/kinder/logo/kinderreporter-alexander-tino-chrupalla-100.…
[2] /AfD-in-der-Krise/!5788365
[3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-09/tom-rohrboeck-politikberate…
[4] /Gareth-Joswig/!a32395/
[5] https://www.youtube.com/watch?v=hWIMhqi01Eo
[6] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kanzlerkandidatin-annalena-baerb…
[7] /Wechsel-vom-OeR-zum-Privatfernsehen/!5779498
[8] https://www.dwdl.de/zahlenzentrale/83731/bild_stoppt_freien_fall_zeit_und_s…
[9] /Ambros-Waibel/!a67/
[10] /Die-Gruenen-im-Wahlkampfjahr/!5750398
[11] https://correctiv.org/faktencheck/2021/07/29/keine-hinweise-dass-hochwasse…
[12] /Manipulation-durch-Social-Bots/!5375458
[13] https://www.dw.com/de/faktencheck-wie-sicher-ist-die-briefwahl/a-59074694
[14] /Fake-News-im-Bundestagswahlkampf/!5797140
[15] https://www.businessinsider.de/politik/deutschland/hackerangriff-auf-serve…
[16] /Schwerpunkt-Meta/!t5009279
[17] /Digitalisierung-in-Wahlprogrammen/!5791629
[18] /Malaika-Rivuzumwami/!a37620/
## AUTOREN
Malaika Rivuzumwami
Ambros Waibel
Gareth Joswig
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