# taz.de -- Experte über deutsche Entwicklungspolitik: „Ziel ist Migrationsv… | |
> Für die deutsche Entwicklungspolitik sind innenpolitische Interessen | |
> bestimmend. Wer Veränderung will, darf nicht CDU, FDP oder AfD wählen, | |
> sagt der Experte Aram Ziai. | |
Bild: Wer wird nächste*r Entwicklungsminister*in? Hier Amtsübergabe von Niebe… | |
taz: Herr Ziai, 1960 wurde das Solidaritätskomitee der DDR gegründet, 1961 | |
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Was hat die | |
deutsche Entwicklungspolitik in 60 Jahren für soziale Gerechtigkeit getan? | |
Aram Ziai: Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass Entwicklungspolitik | |
für globale soziale Gerechtigkeit sorgen soll. Ich denke, dass das ein | |
verkürztes Verständnis ist. Der Entstehungskontext der | |
Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zeigt, dass es nicht nur darum geht, den | |
„armen Menschen im globalen Süden zu helfen“. Geopolitische und | |
außenwirtschaftliche Motive waren und sind immer präsent. Nach dem Zweiten | |
Weltkrieg, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, vor dem Hintergrund | |
[1][antikolonialer Bewegungen] hatte die EZ auch die Funktion, Versprechen | |
zu geben. | |
Was wurde versprochen? | |
Wohlstand und „Entwicklung“ – um unabhängig werdende Staaten in Afrika u… | |
Asien vom Überlaufen ins sozialistische Lager abzuhalten. Wir können | |
mindestens drei Motive ausmachen. Zum einen das geopolitische Motiv, also | |
die Unterstützung befreundeter antikommunistischer Regime. | |
… Sie sprechen jetzt von bundesrepublikanischer Politik … | |
Ja, damit kenne ich mich besser aus. Ich denke aber das im zweiten | |
deutschen Staat ähnliche Motive leitend waren. Das zweite, | |
außenwirtschaftliche, wurde ebenfalls von CDU/CSU und FDP immer wieder | |
bedient. Nach dem Motto: [2][„EZ kommt unserer Exportindustrie zugute, weil | |
Siemens dann zum Beispiel auch Turbinen für die Projekte liefern kann.“] | |
Das genuin entwicklungspolitische Motiv ist das dritte, aber eben nicht das | |
einzige. Man kann aber auch eine gewisse Fokusverschiebung sehen. | |
Inwiefern? | |
Die Lieferbindung, also die Praxis, dass bei Entwicklungsprojekten nur | |
deutsche Produkte Verwendung finden, hat abgenommen. Bei manchen | |
Entwicklungsagenturen ist das allerdings immer noch da. Zu denken, EZ hätte | |
das alleinige Ziel, den Menschen im Süden zu einem besseren Lebensstandard | |
zu verhelfen, wäre sehr kurzsichtig. | |
Muss es denn das alleinige Ziel sein? Win-win, könnte man sagen. | |
Der Entwicklungspolitik der BRD liegt die Annahme zugrunde, dass es keinen | |
Widerspruch gibt zwischen dem Ziel der Armutsbekämpfung und dem Ziel, | |
andere Länder in die globale Wirtschaft zu integrieren. Das stößt aber | |
aufgrund deutlicher Widersprüche schon lange auf Kritik. Letztlich ist, | |
wenn es um die Lebensverhältnisse im Süden geht, die EZ eigentlich ein | |
kleines Licht und die entscheidenden Fragen sind solche nach Welthandel | |
oder nach Verschuldung. | |
12,43 Milliarden Euro, die Deutschland 2021 für EZ ausgibt, sind doch kein | |
kleines Licht. | |
Doch. Der Umfang der staatlichen Gelder, die als Entwicklungshilfe nach | |
Süden gehen, liegt weltweit pro Jahr zwischen 150 bis 200 Milliarden | |
US-Dollar. Die BRD hat einen relativ großen Anteil daran. Der Nettotransfer | |
von Süden nach Norden aber beträgt jedes Jahr 1.000 Milliarden. Dabei | |
spielen Profite, die in den Norden zurückfließen, eine Rolle, | |
Schuldendienst oder eben [3][Steuerflucht]. Die Entwicklungspolitik | |
versucht seit Langem, Armutsbekämpfung zu betreiben, ohne den Reichen auf | |
die Füße zu treten. Eine konsequente Politik müsste eingestehen: Wenn die | |
entscheidenden Parameter für Ungleichheit in der Weltwirtschaft zu finden | |
sind, müssten eben auch diese Strukturen in den Blick geraten und auf das | |
Ziel der Armutsbekämpfung ausgerichtet werden. | |
Was heißt das konkret? | |
Das wurde schon einmal politisch versucht – unter [4][Heidemarie | |
Wieczorek-Zeul] (SPD-Entwicklungsministerin von 1998 bis 2009, d. Red.). | |
Sie wagte den Versuch, Entwicklungspolitik aus der Nische zu holen, in der | |
hie und da Brunnen gebaut werden. Sie versuchte eine Entwicklungspolitik zu | |
betreiben, die globale Strukturen verändert. Das war aber hochgradig | |
konfliktiv. Die Ministerin handelte sich großen Ärger mit dem Wirtschafts- | |
und Landwirtschaftsministerium ein, wo man schließlich deutsche Interessen, | |
und das hieß für sie: die Interessen der deutschen Wirtschaft vertreten | |
wollte. Ihre Versuche, eine entwicklungspolitische Handlungslogik zu | |
verallgemeinern, waren in den wenigsten Fällen erfolgreich. Obwohl sie auch | |
mit nationalen Interessen argumentierte: Armut im Süden sei zu bekämpfen, | |
weil sie über Krisen, Migration, Terrorismus auch den Norden negativ | |
beträfe. | |
Ein Argument, das sich der [5][scheidende Gerd Müller (CSU)] zu eigen | |
gemacht hat. Ist das Lieferkettengesetz in Ihrem Sinne? | |
Dieses Gesetz geht in die richtige Richtung. Da hat das | |
Entwicklungsministerium eben nicht irgendeine Initiative gestartet, sondern | |
es war klar: wenn weltwirtschaftliche Strukturen verändert werden sollen, | |
dann müssen Arbeitsminister und Wirtschaftsminister eben auch mitspielen. | |
Es ist ein Erfolg, dass es bei dem Gesetz, so abgeschwächt es auch sein | |
mag, zu einer Einigung gekommen ist. [6][Der Anspruch wäre aber, solches | |
nicht nur für die Lieferketten in der Textilindustrie durchzusetzen.] Wenn | |
man Menschenrechte und die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO ernst | |
nimmt, muss das ein Querschnittsthema sein. Ansonsten konterkariert man | |
Erfolge in der Armutsbekämpfung mit der Wirtschaftspolitik, die man macht. | |
Müller wurde auch dafür gelobt, dass der Entwicklungshaushalt auf die von | |
der UNO vorgesehenen 0,7 Prozent des BIP anwuchs … | |
Das 0,7-Prozent-Ziel wurde nach 2015 erreicht, und zwar deswegen, weil die | |
Aufwendungen für Geflüchtete zum Entwicklungsbudget gerechnet wurden. Damit | |
einher ging aber – das ist auch Minister Müller anzurechnen –, dass | |
Entwicklungspolitik noch mal stärker zu Migrationspolitik wurde. Das zeigt, | |
wie sich die Entwicklungspolitik daran orientiert, was innenpolitisch | |
gerade gefragt ist. Das kommt als Viertes zu den bereits erwähnten drei | |
Motiven hinzu: das übergreifende Ziel seit 2015 ist | |
„Fluchtursachenbekämpfung“, wenn man es böswillig auslegt | |
„Migrationsverhinderung“. Organisationen wie Medico International fordern | |
hingegen das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen. In diesem Bereich | |
lässt die Politik der BRD und der EU allgemein zu wünschen übrig. | |
Bei welcher Partei machen jene ihr Kreuz, die auf globale Armutsbekämpfung | |
Wert legen? | |
Die FDP hat mit [7][Dirk Niebel] (Entwicklungsminister von 2009 bis 2013, | |
d. Red.) unter Beweis gestellt, dass sie vor allem die deutschen Interessen | |
wichtig findet. Die AfD sieht die Legitimation von Entwicklungspolitik in | |
der Migrationsverhinderung. Beim Lieferkettengesetz hat es gehakt, weil die | |
Union sich so lange gesträubt hat. In den anderen Parteien sind teilweise | |
entwicklungspolitisch kompetente Leute zu finden, die aber auch in | |
unterschiedlichem Maße bereit sind, die unangenehmen Fragen zu stellen und | |
sich von der Vertretung deutscher Interessen zu lösen. | |
22 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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