# taz.de -- Missbrauch durch Entwicklungshelfer: Das Schweigen durchbrechen | |
> Außenpolitische Debatten in Deutschland kreisen gerne um Militäreinsätze. | |
> Dabei gehört das Verhalten von zivilen Helfern ebenso auf den Prüfstand. | |
Bild: Eine betroffene Kongolesin, die für den WHO-Bericht über sexuelle Ausbe… | |
Endlich soll etwas passieren. In einer gemeinsamen Erklärung haben alle | |
wichtigen Geberländer der Vereinten Nationen – die EU-Mitglieder, die USA, | |
Großbritannien, Australien, Kanada, Neuseeland und Norwegen – die | |
Weltgesundheitsorganisation WHO abgemahnt. Am 28. September hatte ein | |
[1][WHO-Bericht] schwere Vorwürfe von Kongolesinnen über Vergewaltigung, | |
sexuelle Übergriffe und sexuelle Ausbeutung durch WHO-Personal in der | |
Demokratischen Republik Kongo bestätigt. | |
„Wir erwarten von der WHO vollen Einsatz“, heißt es in der Erklärung vom … | |
Oktober. Wichtig sei jetzt „eine sofortige, gründliche und detaillierte | |
Überprüfung der institutionellen Politik, operativen Prozesse, | |
Führungskultur und Umstände“. Man wolle einen „schnellen Wandel“. Dass | |
dieser Wandel nötig ist, steht außer Frage. „Jolianne“, so ein Fall im | |
[2][WHO-Bericht], „verkaufte im April 2019 in Mangina Telefoneinheiten am | |
Straßenrand, als ein WHO-Fahrer sie ansprach und ihr anbot, sie nach Hause | |
zu fahren. | |
Stattdessen fuhr er sie in ein Hotel, wo, wie sie sagt, sie von dieser | |
Person vergewaltigt wurde“. Sie wurde schwanger und bekam ein Kind. | |
„Séverine war im September 2019 43 Jahre alt, als sie ein Mann, der sich | |
als WHO-Angestellter ausgab, einlud, ihn im Viaka-Hotel zu treffen, um über | |
eine Anstellung im Ebola-Komitee zu sprechen. Im Zimmer sagte er, sie müsse | |
vorher mit ihm schlafen. Sie sagt, dass sie trotz ihrer Weigerung | |
vergewaltigt wurde.“ Die Stelle habe sie erhalten. | |
Eine Mitarbeiterin eines WHO-Arztes musste an ihren Chef entweder die | |
Hälfte ihres Gehalts abtreten oder ihm sexuell zu Diensten stehen. „Sie | |
bezahlte ihn vier Monate lang, bevor sie sich beschwerte. Die Zahlungen | |
endeten, aber der Arzt wurde nie gemaßregelt.“ Eine Frau, die von einem | |
WHO-Mitarbeiter schwanger wurde, beschwerte sich beim WHO-Regionalbüro. Die | |
WHO ignorierte die Beschwerde mit der Begründung, sie sei nicht schriftlich | |
eingereicht worden. | |
## WHO kein Einzelfall | |
Viele Täter waren selbst Kongolesen, die ihre von den UN verliehene | |
Machtposition ausnutzten. Das entschuldigt nicht, dass die WHO ihre | |
Praktiken nicht überprüfte und den Beschwerden nicht nachging. Die WHO ist | |
kein Einzelfall. Seit Jahren häufen sich Berichte über Sexualverbrechen und | |
sexuelle Nötigung durch Mitarbeiter von Hilfswerken weltweit. | |
Die Art, wie die beschuldigten NGOs sich zur Wehr setzen, war anfangs so | |
grotesk, als habe der Vatikan Pate gestanden. Über die ersten Vorwürfe | |
gegen Oxfam-Mitarbeiter in Haiti 2018 sagte damals der britische | |
[3][Oxfam-Chef Mark Goldring], die Berichte seien „unverhältnismäßig“; m… | |
habe ja schließlich keine Babys ermordet. Vielerorts wurden Missetäter | |
geräuschlos entlassen und kamen dann bei einer anderen Organisation unter, | |
die von der Vorgeschichte nichts erfuhr. | |
## UN-Mitarbeiter genießen Immunität | |
Auch zwischen UN-Organisationen werden offenbar Skandalträger so | |
weitergereicht. „Weiße männliche Mittelklassefiguren in hochrangigen | |
Positionen“, die selbst gegen sexuelle Belästigung gefeit sind, „spielen | |
das Risiko herunter und reagieren auf Vorwürfe langsam und zögerlich“, | |
bilanziert die Wissenschaftlerin Charlotte Riley in einem Artikel über | |
#AidToo als Weiterung von #MeToo. | |
In Großbritannien, das als erste große Industrienation das UN-Ziel von 0,7 | |
Prozent des BIP für Entwicklungshilfe erreichte, hat die Politik sich des | |
Themas angenommen. Ein internationaler Gipfel in London entschied im | |
Oktober 2018 über ein globales Register von Helfern und globale Standards | |
zum „Safeguarding“, also „die Verantwortung der Organisationen, dass ihre | |
Mitarbeitenden, ihre Programme und Projekte Kindern und gefährdeten | |
Erwachsenen weder selbst Schaden zufügen noch diese Personen der Gefahr von | |
Schaden und Missbrauch aussetzen“. | |
Der britische Parlamentsausschuss für Entwicklung veröffentlichte seinen | |
dritten Bericht zum Thema Ende 2020 und hält weiterhin Anhörungen ab. Es | |
gibt noch viel zu tun. Nach wie vor mangelt es an unabhängigen | |
Beschwerdestellen für Opfer. Nationale Gesetze gegen Sexualverbrechen sind | |
gemeinhin nicht auf Verbrechen im Ausland anwendbar. UN-Mitarbeiter | |
genießen Immunität vor nationaler Strafverfolgung. | |
Verwirrung besteht zuweilen darüber, ob Schutzmaßnahmen für Beschäftigte | |
von Hilfswerken und Zielpersonen der Hilfe gleichermaßen gelten. | |
Meldeverfahren und Nachverfolgung allein sind noch keine Prävention. Die | |
neue WHO-Untersuchung im Kongo war lediglich intern, alle Folgeschritte | |
sind freiwillig. In Deutschland sind diese Debatten unterentwickelt. | |
Der [4][NGO-Zusammenschluss Venro] erstellte im Jahr 2019 eine umfassende | |
„Handreichung“ über „Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung in … | |
Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe“. Doch unabhängige | |
Kontrollen finden nicht statt. In der politischen Debatte ist das kein | |
Thema. Parlamentarische Anfragen werden mit Hinweisen auf interne Verfahren | |
der Organisationen beantwortet, obwohl diese mit Staatsgeldern arbeiten. | |
Der Regierungswechsel in Berlin könnte eine Chance darstellen. Das für | |
humanitäre Hilfe zuständige Auswärtige Amt und das für Entwicklungshilfe | |
zuständige Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit dürften | |
neue Führungen erhalten. Deutschland spricht gerne über eine multilaterale, | |
zivile Außenpolitik. Mehr Geld für Entwicklungshilfe, für das UN-System, | |
für Nothilfe – darüber besteht breiter Konsens. | |
Umso wichtiger ist es, die Instrumente einer zivilen Politik so zu | |
gestalten und zu überwachen, dass sie nicht selbst Schaden anrichten. Wenn | |
Soldaten im Auslandseinsatz Zivilisten töten und sich dafür auf Befehle | |
berufen, ist die Aufregung groß. Wenn Helfer im Auslandseinsatz ihren | |
Sexualtrieb ausleben und dafür ihre Privilegien ausnutzen, wird | |
geschwiegen. Das darf nicht so bleiben. Die Forderungen an die WHO sind ein | |
erster Ansatz. Sie sollten nicht der einzige bleiben. | |
4 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Sexuelle-Ausbeutung-im-Kongo/!5800435 | |
[2] https://www.who.int/publications/m/item/final-report-of-the-independent-com… | |
[3] https://metro.co.uk/2018/02/17/oxfam-chief-says-backlash-proportion-didnt-k… | |
[4] https://venro.org/start | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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der Experte Aram Ziai. |