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# taz.de -- Umgang mit Falschbehauptungen: Fehlende Analyse
> Nachrichtenjournalismus begreift sich oft noch als neutrale Bühne.
> Dadurch verpasst er, Falschaussagen politischer Figuren kritisch
> einzuordnen.
Bild: Verbreitet gerne Falschaussagen auf Twitter: Friedrich Merz
[1][Wahlkampfzeit] ist die Zeit der Polemik aus den hinteren Reihen.
Während sich die Spitzenkandidat*innen der Parteien mit Chance auf
Regierungsbeteiligung in allgemeingültigen Wohlfühlsätzen üben, versuchen
politische Randfiguren durch Extremeres von sich reden zu machen. Dass
Exkanzler Gerhard Schröder gerade die [2][Currywurst bei VW] retten will,
ist da noch ein harmloses Beispiel. Gefährlicher, vor allem für den
Journalismus, wird es, wenn politische Figuren in den Bereich der
Falschaussagen treten. Denn dann laufen Medien Gefahr, sich
instrumentalisieren zu lassen. Zumindest, wenn sie pflichtschuldig
abbilden, anstatt kritisch einzuordnen.
Nehmen wir Friedrich Merz. Der CDU-Bundestagskandidat für den
Hochsauerlandkreis hat am Wochenende folgendes getwittert: „Ein
grünes,Einwanderungsministerium’ soll möglichst viele Einwanderer
unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen. Die
Gender-Sprache soll uns allen aufgezwungen und das Land überzogen werden
mit neuen Verhaltensregeln, Steuern und Abgaben.“ Denselben Wortlaut
verwendete Merz in seiner Focus-Kolumne. Darin stecken drei
Tatsachenbehauptungen – also Aussagen, die falsch sein können und deshalb
einen Beleg brauchen.
Erstens, dass „möglichst viele“ Einwanderer*innen eingeladen werden
sollen. Zweitens, dass „Gender-Sprache“ aufgezwungen würde und drittens,
dass das Land „überzogen“ werden würde mit Verhaltensregeln, Steuern und
Abgaben. Das „Soll“ unterstellt dabei, dass ein konkreter Plan oder eine
Absicht zumindest bei einflussreichen Grünen-Politiker*innen gegeben ist.
Wäre Merz’ Aussage ein journalistischer Text, dann wären hier Belege nötig,
die Merz nicht liefert. Es handelt sich um eine zur Unkenntlichkeit
übertriebene Wiedergabe [3][der tatsächlichen Grünen-Pläne], jedoch
dargestellt als Fakt.
Journalistisch könnte das als „Falschbehauptung“ eingeordnet werden, als
„Lüge“, „Übertreibung“ oder „Verzerrung“. Viele Medien hingegen u…
eine solche Einordnung.
## Ohne Einordnung
Zeit Online titelte, die CDU [4][„polemisiere“] gegen die Grünen. Die
Einordnung von Merz’ Behauptungen nimmt das Medium nicht selbst vor,
sondern überlässt sie – vermeintlich neutral bleibend – zwei
Grünen-Politiker*innen. Auch die Süddeutsche überlässt es den Grünen, Merz
Lüge „vorzuwerfen“, anstatt dass die Zeitung die Aussage selbst einordnet.
Die Rheinische Post titelt zurückhaltend, Merz habe sich „mit kritischen
Tweets den Unmut der Grünen zugezogen“. Anders verhielt sich der Spiegel.
Dessen Überschrift „Merz provoziert Grüne mit Falschaussagen in Tweet“
ordnet den Wahrheitsgehalt der Behauptungen für die Lesenden ein.
Häufig begreift sich der Nachrichtenjournalismus als neutrale Bühne, auf
der Streits ausgetragen werden. Die Bewertung einer Aussage, selbst wenn
sie hanebüchen ist, verortet man ins Reich der Meinung. Tatsächlich wäre es
Sache eines Meinungbeitrags, Merz zum Beispiel „bewusstes Lügen“ oder
„kalkulierte Hetze“ zu unterstellen. Über Beweggründe zu spekulieren hat …
der Textgattung Nachricht wirklich nichts verloren. Ob eine
Tatsachenbehauptung stimmt oder nicht, lässt sich hingegen faktisch
ermitteln.
Im Juni sprach der CDU-Kandidat für den Wahlkreis Suhl/Schmalkalden,
Hans-Georg Maaßen bei dem privaten Lokalfernsehsender tv.berlin zum Thema
öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Maaßen sagte Folgendes: „Wenn man sieht,
dass es da auch Verbindungen gibt zwischen der,Tagesschau' oder zwischen
Personen, die für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die ‚Tagesschau‘
arbeiten und der linken und linksextremen Szene, dann wäre das wirklich
auch eine Untersuchung wert.“
Maaßens Ruf nach einem „Untersuchungsausschuss NDR“ ist dabei polemisch und
möglicherweise populistisch – aber eine Meinungsäußerung. Eine
Tatsachenbehauptung steckt hingegen im Nebensatz: Es gebe „Verbindungen
zwischen der Tagesschau und der linksextremen Szene“, nebst der impliziten
Unterstellung, dass diese Verbindungen in die journalistische Arbeit der
„Tagesschau“-Redaktion führten. Journalistisch ließe sich das als
„unbelegte Behauptung“, „fragwürdige Unterstellung“ oder wiederum als
„Falschaussage“ einordnen.
## Keine politische Haltung
Viele Medien wählten hier jedoch nicht die Tatsachenbehauptung als
Hauptaugenmerk ihrer Meldungen, sondern Maaßens Forderung. Der Tagesspiegel
fügte immerhin die Formel [5][„ohne Belege zu nennen“] in die Unterzeile
seines Artikels ein, erwähnte weiter unten, dass Maaßen nicht weiter auf
die Unterstellungen habe eingehen wollen und nannte den CDU-Mann
„umstritten“.
[6][Viele andere Medien übernahmen eine Meldung der Deutschen
Presse-Agentur], die reihenweise die fragwürdigen Aussagen Maaßens ohne
eigene Einordnung wiedergab. Die Agentur ließ zwar viele Maaßen-kritische
Stimmen zu Wort kommen. Fasste dann aber im Titel das Ganze als „Wirbel
nach Maaßen-Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ zusammen. „Kritik�…
wertet die Position Maaßens auf – während „Wirbel“ die aller anderen
abwertet.
Das alles ist keine Frage von Meinung. Die Qualität oder den
Wahrheitsgehalt einer Aussage zu benennen, ist nicht einmal eine Frage von
politischer Haltung, sondern von journalistischer Analyse. Viele
Redaktionen begreifen sich allein als ein „Austragungsort“ politischer
Debatten. Aussagen werden wiedergegeben, Gegenstimmen eingeholt und das
Ganze dann möglichst „neutral“ berichtet.
Populistische Strategien funktionieren in einem solchen Journalismus der
„falschen Balance“ besonders gut. Das ist aus den letzten beiden
US-Wahlkämpfen sowie aus der Präsidentschaft Donald Trumps bekannt. Aber
auch aus der Coronapandemie. Gerade wenn fragwürdige Aussagen oder deren
Inhalt direkt in Überschriften stehen, handelt es sich nicht um eine
neutrale Wiedergabe dieser Aussagen, sondern um eine Verstärkung. Dasselbe
gilt für scheinbar neutrale Begriffe wie „Kritik“, „Vorwurf“ oder
„Provokation“.
## Weich landen
Der Grünen-Politiker Boris Palmer etwa „provozierte“ bei der Welt bloß, a…
er im Mai Falschbehauptungen über den Fußballer Dennis Aogo verbreitete.
Palmer hatte auf einen unbelegten Facebook-Kommentar verwiesen, in dem
stand, Aogo habe für sich selber das N-Wort verwendet. Linken-Politikerin
Sahra Wagenknecht wird, wie viele andere linke Stimmen, immer wieder gerne
mit Aussagen zitiert, es gebe Wünsche nach „Denkverboten“ in Debatten um
Antidiskriminierung.
Populist*innen können sich sicher sein: Wenn sie beim Sich
-aus-dem-Fenster-lehnen rausfallen, werden sie auf den Formulierungen der
Medien weich landen.
Mehr etabliert hat sich das kritische Einordnen von falschen oder
unbelegten Behauptungen inzwischen beim Thema Klima, bei der Pandemie und
wenn es sich um prominente Mitglieder der AfD handelt. Polemiker*innen
anderer Couleur hingegen agieren noch weitgehend unbehelligt.
## Dieselben Standards
Zu den Aussagen Friedrich Merz’ sind im Laufe der Woche übrigens diverse
„Faktenchecks“ erschienen. Dieses Format, das im Zuge der Fake-News-Debatte
entstanden ist, ist positiv und hilfreich. Allerdings hat es mehrere
Nachteile: Es erscheint meist zu spät und erst, wenn es bereits eine
Debatte gibt und die mutmaßlichen Falschaussagen mehrfach geteilt wurden.
Und: Es wird viel weniger gelesen – meist nur von denen, die gezielt danach
suchen.
Nicht nur, aber gerade im Wahlkampf und gerade bei Nachrichten, die im Netz
veröffentlicht werden, ist es deshalb wichtig, Falschinformationen gar
nicht erst ohne Einordnung zu verstärken. Der journalistische Umgang mit
Tatsachenbehauptungen Dritter sollte immer denselben Standards wie dem
eigenen Content der Redaktionen entsprechen.
14 Aug 2021
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Bundestagswahl-2025/!t5007549
[2] /Vegetarische-Kantine-beim-Autobauer/!5788085
[3] /Falschbehauptungen-ueber-die-Gruenen/!5788046
[4] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-08/friedrich-merz-cdu-gruene-e…
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/cdu-politiker-sieht-klaren-linksdrall-m…
[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/parteien-wirbel-nach-maassen-kritik-am-…
## AUTOREN
Peter Weissenburger
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