# taz.de -- Hochwasser in Deutschland: Das unalarmierte Land | |
> Bisher dachte man hierzulande, Katastrophen passieren weit entfernt. Weit | |
> gefehlt. | |
Bild: Einige Sirenen sind in Deutschland noch vorhanden | |
Morgens gegen sechs Uhr begannen in der Bucht von Piran die Sirenen zu | |
heulen. Es war Januar, und das Wasser hatte in der Früh über die | |
Hafenmauern der kleinen slowenischen Stadt an der nördlichen Adriaküste zu | |
treten begonnen. | |
Während ich, in einem Hotelbett liegend, zunächst an einen schlechten Traum | |
dachte und mich dann wieder zum Schlafen (!) umdrehte, standen die aus | |
Serbien angereisten Gäste binnen kürzester Zeit mit gepackten Koffern in | |
der Lobby: Die Belgrader hatten die Sirene als Warnung vor einem | |
Luftangriff interpretiert und wollten sich im Keller in Sicherheit bringen. | |
Wenn es richtig ernst geworden wäre mit der Flut, hätten sie zumindest | |
bessere Chancen als ich gehabt, der ich überhaupt nicht in der Lage gewesen | |
war, den Alarm ernst zu nehmen. | |
Zu Hause in Berlin hätte gar nichts geheult, die Sirenen wurden nämlich | |
nach Ende des Kalten Krieges abgeschafft. Nicht nur dort will man im | |
Katastrophenfall per App (gut, dass ich das jetzt auch mal weiß) oder via | |
Radio (das ich allerdings morgens gegen sechs Uhr eher nicht angeschaltet | |
habe) warnen. | |
Und es sind ja nicht nur Sirenen: Mit dem Ende des Kalten Krieges vermutete | |
man auch das Ende der Geschichte, daher schaffte man die zahlreichen | |
Notfallkrankenhäuser ab, die man über Jahrzehnte in den Kellern | |
öffentlicher Gebäude in Westdeutschland unterhalten hatte, um für den Fall | |
eines Atomschlags gerüstet zu sein. Die ein oder andere Maske, das eine | |
oder andere Beatmungsgerät hätte man dort sicher noch finden können, wenn | |
seinerzeit eine Pandemie vergleichbar mit Sars-CoV-2 aufgetreten wäre. | |
Ich erinnere mich gut daran, dass wir über diese Einrichtungen gelacht | |
haben, so wie über die hilflose Anweisung, sich im Fall der Explosion einer | |
Atombombe doch bitte eine Aktentasche über den Kopf zu halten. Aktentaschen | |
hatten doch höchstens Anwärter auf die Mitgliedschaft in der Jungen Union. | |
Aber heute haben wir dann doch ein Bewusstseinsproblem: In den sozialen | |
Medien wurde die Reaktion einer Dame im Überflutungsgebiet viel gescholten, | |
die in einem Kurzvideo sinngemäß sagte, dass es solche Katastrophen doch | |
eigentlich nur in „armen Ländern“ gebe und nicht in Deutschland. Dann brach | |
sie in Tränen aus: „So viele Tote.“ Katastrophen, so denkt man | |
hierzulande, finden woanders statt, nicht im Schwarzwald oder in Bielefeld. | |
Und auch wenn es einen Tornado an der Grenze zwischen Tschechien und | |
Österreich gibt, liegt diese Gegend gefühlt mindestens in Sibirien. | |
## Der Erfahrungshorizont der Kriegskinder | |
Sebastian Hartmann, SPD-Experte für Katastrophen- und Zivilschutz, | |
[1][beklagte angesichts der Flutkatastrophe], dass die Bevölkerung von den | |
Behörden zu wenig einbezogen werde: Viele Menschen wüssten schlicht nicht, | |
was sie im Katastrophenfall zu tun hätten. Die britische Hydrologin | |
[2][Hannah Cloke kritisierte] nicht nur ein „monumentales Systemversagen“, | |
sondern forderte auch mehr Eigenverantwortung. Und Hartmut Ziebs, | |
ehemaliger Präsident des Deutschen Feuerwehrverbands, befand, dass die | |
deutsche Politik die Bevölkerung offensichtlich nicht [3][mit Problemen des | |
Katastrophenschutzes habe „belasten“] wollen. Der Bund habe in den letzten | |
Jahren zwar viele Übungen absolviert, daraus aber keine Lehren gezogen. | |
Wir sollen also nicht belastet werden? | |
Vielleicht liegt da tatsächlich das Problem: Ein Großteil der Bevölkerung | |
ist in einer Zeit aufgewachsen, in der Katastrophen zwar durchaus in | |
Aussicht standen (Atomkrieg, Waldsterben, Ozonloch), wenn sie eintraten | |
aber für die meisten eher folgenlos blieben (Aids). Das ist ein völlig | |
anderer Erfahrungshorizont als etwa jener der Generation der Kriegskinder, | |
von denen noch immer viele unter uns weilen. Meine Mutter zum Beispiel ist | |
durch eine ordentliche Pandemie nicht aus dem Konzept zu bringen. Sie hat | |
die Asiatische Grippe überlebt, die Ende der 50er Jahre grassierte, und | |
durfte fast gleichzeitig wegen der Gefahr der Kinderlähmung lange Zeit | |
nicht draußen spielen. Sie war „Einschränkungen gewohnt“, wie sie sagt. U… | |
sie hat Geschirr im Schrank, „das noch unter Trümmern lag“. Den Trümmern | |
ihres Elternhauses. | |
In späteren Generationen hat sich die Verbindung zu dieser Vergangenheit | |
gelockert. Ausgerechnet jetzt, da sie abgerissen scheint, sieht sich die | |
Gesellschaft mit wirklich ernst zu nehmenden Problemen konfrontiert, | |
nämlich der „schlimmsten Krise [4][seit dem Zweiten Weltkrieg]“ (Angela | |
Merkel über Covid) oder eben „der größten Katastrophe im Kreis Ahrweiler | |
seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Landrat Jürgen Pföhler über die Flut). | |
Aber vielleicht ist genau dies die Chance der „Millenials“ oder der | |
„Generation Greta“, oder wie immer man sie nennen mag. Die Katastrophe | |
ist jetzt und nicht in der Vergangenheit. Und wenn wir von der | |
Klimakatastrophe sprechen: In der nahen Zukunft wird es womöglich erst noch | |
viel schlimmer, bevor es auch nur ansatzweise besser werden kann. Es sind | |
junge Leute, die bereit sind zu handeln, weil es um ihr Leben geht. Ihr | |
Blick ist nicht provinziell verengt, stattdessen sind sie global vernetzt, | |
sodass sie von anderen Ländern – „armen“, wie die Dame im Video so | |
unglücklich sagte – lernen können. Ja, auch wie man mit extremen | |
Wettersituationen und ihren Auswirkungen umgehen kann. | |
24 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nzz.ch/international/was-das-hochwasser-lehrt-sebastian-hartman… | |
[2] /Hochwasser-in-West--und-Sueddeutschland/!5787468 | |
[3] https://www.tagesspiegel.de/politik/katastrophenschutz-unruhe-ist-die-erste… | |
[4] /Sprechen-ueber-Corona/!5738074 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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