# taz.de -- Neues Album „Nine“ von Sault: Hoffnungslosigkeit klingt funky | |
> Von den Straßen Londons handelt das neue Album der britischen Band Sault. | |
> „Nine“ lässt sich für 99 Tage kostenlos im Netz herunterladen. | |
Bild: Sozialbauten in London, auch Sault wuchsen dort auf | |
Ungefähr in der Mitte des neuen Albums der [1][britischen Band Sault] wird | |
die Musik unterbrochen, damit Michael Ofo „Mike’s Story“ erzählen kann. … | |
spricht ruhig, mit einprägsamer Melodik, manchmal aber kommt er doch ins | |
Stocken. Kein Wunder bei dem, worum es geht. | |
Ofo beschreibt die Nacht, in der sein Vater ermordet wurde, er berichtet | |
von den Tränen der Mutter und den eigenen, die ihm kamen, weil er ihren | |
Schmerz in sich spürte, von der Fahrt auf dem Rücksitz des Polizeiautos, | |
die sich in seine Erinnerung eingebrannt hat, davon, wie taub er sich | |
damals gefühlt habe. | |
Es ist eine persönliche Geschichte, die von Verlust und Trauer handelt, | |
aber sie steht da eigentlich nicht für sich, sondern für viele Geschichten, | |
ähnliche Geschichten, die man erzählen könnte und die in den Texten auf | |
„Nine“ mitschwingen und mit ihnen die großen, vor allem schweren Gefühle. | |
„The pain is real“, wie es im Song „Fear“ heißt, auch wenn es beim ers… | |
Durchhören vielleicht gar nicht so klingen mag. | |
Sault sind eine britische Band, eine ziemlich produktive und die vielleicht | |
bekannteste unbekannte derzeit. 2019 ließen sie erstmals von sich hören. | |
„5“ und „7“ lauteten die Titel der beiden EPs, die sie damals im Mai und | |
September veröffentlichten – und in deren Zusammenhang „Nine“ | |
offensichtlich zu verstehen ist. | |
## Band-Mitglieder sind unbekannt | |
2020 folgten zwei weitere Alben „Untitled (Black is)“ und „Untitled | |
(Rise)“. Dass der Londoner Produzent Dean „Inflo“ Josiah Cover ein Mitgli… | |
von Sault ist, gilt als sicher, die Sängerin Cleo Sol, aber sonst weiß | |
keiner genau, wer da noch mitmischt. Nur die jeweiligen | |
Gastmusiker*innen werden benannt. Von der Presse halten sich Sault | |
fern, Live-Auftritte gibt es nicht, Fotos logischerweise erst recht nicht. | |
Mit diesem eigentlich so gar nicht in die Spektakelmaschinerie des Pop | |
passenden Verhalten haben Sault quasi durch die Hintertür umso | |
nachdrücklicher auf sich aufmerksam gemacht, indem sie die Proteste nach | |
dem gewaltsamen Tod von George Floyd, [2][die Black-Lives-Matter-Bewegung, | |
mit der passenden Musik unterfütterten], die Wut, den Schmerz vertonten – | |
auf „Wildfires“ zum Beispiel, einem traurigschönen Song über Polizeigewalt | |
und Widerstandskraft. | |
Die Musik von Sault hat der Guardian einmal treffend mit der Kunst des | |
[3][afroamerikanischen Künstlers Arthur Jafa] verglichen, insbesondere mit | |
dessen bekanntester Arbeit „Love Is the Message, The Message Is Death“, | |
einer bildgewaltigen Videocollage, die auf ebenso verstörende wie | |
mitreißende Weise Bewegtbildschnipsel zu einem visuellen Essay verpuzzelt, | |
der zusammenfasst, was die Erfahrung Schwarz zu sein ausmacht. | |
Gewissermaßen machen Sault dasselbe auf auditive Weise, was sie | |
collagieren, sind Stimmen, Geschichten, Musikstile, Schwarze Musikstile. | |
Auf „Nine“ sind das Soul und Funk, Gospel, Blues, Disco, Trap und Afrobeat. | |
Leicht ins Ohr geht dieser Mix, vor allem dann, wenn Cleo Sol ihre Stimme | |
erklingen lässt. Sols Soulgesang umschmeichelt den Gehörgang so gefühlvoll | |
und klar, dass die Songs sich dort gleich festhaken und nachwirken. | |
## Ohrwurmtaugliche Musik | |
Auf „Bitter Streets“ etwa oder Saults ebenso melancholischer Ode an den | |
„Alcohol“. Es ist eine Verführungsstrategie, mit der die Band schon auf den | |
vorigen Alben gearbeitet hat. Sault setzen auf eingängige, ohrwurmtaugliche | |
Musik, damit ihre Hörerinnen und Hörer die Songs wieder und wieder hören | |
und immer genauer hinhören, bei „Mike’s Story“ und all den anderen. | |
Die Songs führen auf „Nine“ in Saults Heimat, nach London, in die Abgründe | |
der Straßen der britischen Hauptstadt. Am 22. Juni, wenige Tage vor dem | |
Erscheinen, hatte die Band ihr neues Album angekündigt, per Instagram-Post. | |
Das Foto zeigt eine Wohngegend Londons, eine jener als soziale Brennpunkte | |
geltenden Council Estates, schäbige Sozialwohnungssiedlungen, wo | |
Jugendliche leben, wie sie selbst mal welche waren. | |
„Some of us are from the heart of London’s council estates where proud | |
parents sought safer environments to raise their families. Community is the | |
only real genuine support & the majority of us get trapped in a systemic | |
loop where a lot of resources & options are limited. Adults who fail to | |
heal from childhood traumas turn to alcohol & drugs as medicine“, lautet | |
der Text unter jenem Post. Er steckt die Themen ab, von denen „Nine“ | |
handelt. | |
Um das Erwachsenwerden geht es, um Jugendgangs, die solche sind oder als | |
solche betrachtet werden, um Rassismus und Polizeigewalt, um überforderte | |
Eltern und um Alkohol, um ein Leben, das keine wirklichen Chancen bietet. | |
„Trap Life“ etwa vertont die Hoffnungslosigkeit als funky Loop mit | |
hypnotisierendem Rhythmus, der gegen Ende des Stücks in einen | |
durchdringenden elektronischen Beat übergeht. | |
## Der Polizei ist nicht zu trauen | |
„We trap on these blocks / And we don’t trust these cops“, heißt es dari… | |
„Tell me who’s taking shots, shots, shots / I wanna be free / Free my fam' | |
and my mind / ’Cause we're locked up inside / Please don't reach for that | |
nine, nine, nine.“ | |
Die Häuserblocks erscheinen als Mikrokosmen mit unverrückbaren Gesetzen und | |
vorab festgelegten Rollen. Der Polizei ist nicht zu trauen, wer den Notruf | |
(999) wählt, bringt sich selbst in Gefahr. Wie auch sonst die Gefahr zu | |
lauern scheint, überall, darauf spielt schon, gar nicht mal so subtil, das | |
Motiv des Coverbilds an. „Nine“ steht dort geschrieben, aus Streichhölzern | |
gelegt. Fehlt bloß noch der Funke. | |
Politisch und programmatisch ist quasi alles zu verstehen, was Sault | |
machen, und daher gewiss auch, dass das nur 35 Minuten kurze Album mit | |
Gelächter beginnt. Mit „Haha“, einem verwirrenden Song ohne viel Text, aber | |
mit viel „Haha“, das gar nicht mal so lustig klingt. | |
Ist es eine Aufforderung zu lachen, um nicht zu weinen? Und worüber | |
überhaupt? In „How About the Love“ löst es sich es an einer Stelle auf. D… | |
ständige Gefasel über die Liebe könnte also gemeint sein, die Art und Weise | |
wie sich derzeit alle, vor allem die, die eigene Vorteile oder ein Geschäft | |
wittern, sich scheinbar für die Liebe und gegen den Rassismus starkmachen. | |
Vielleicht gilt Saults Lachen aber auch der Unterhaltungsindustrie, unter | |
deren üblichen Gesetzen sich Sault weiterhin erfolgreich hinwegducken. | |
Nicht nur, was die Anonymität angeht, sondern auch den Vertrieb. | |
## Kostenloses Album für 99 Tage | |
Ihre Alben stellen sie zum kostenlosen Download auf ihre Website, auch das | |
neue, nur gibt es da einen weiteren Dreh: „Nine“ ist zwar ebenfalls wieder | |
frei auf www.sault.global verfügbar, aber nur für 99 Tage. Auf der Website | |
läuft ein Countdown bis zum 2. Oktober. Auch die Vinylversion wird es nach | |
dessen Ablauf nicht mehr zu kaufen geben, Verknappung als Prinzip der | |
maximalen Aufmerksamkeitssteigerung. | |
Ob das so auch bei den Streamingdiensten umgesetzt werden wird, ist | |
fraglich, darauf ankommen lassen sollte man es besser nicht. Viel zu | |
riskant wäre es, den 2. Oktober verstreichen zu lassen, ohne sich „Nine“ zu | |
sichern, wenn dann davon womöglich tatsächlich weniger übrigbleibt als von | |
einer Handvoll komplett heruntergebrannter Streichhölzer. | |
26 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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