| # taz.de -- Grüne Politik zu Abschiebungen: Das eine sagen, das andere tun | |
| > Afghanistan gilt als unsicherstes Land der Welt. Trotzdem schieben auch | |
| > grün regierte Bundesländer ab – und weisen die Verantwortung von sich. | |
| Bild: Sträuße für getötete Mitschülerinnen: die Sicherheitslage in Afghani… | |
| Für Grünen-Chef Robert Habeck ist die Sache klar: Weil sich nach dem Abzug | |
| der ausländischen Streitkräfte die Sicherheitslage in Afghanistan | |
| dramatisch verschärft hat, fordert er einen Abschiebestopp. Die | |
| Bundesregierung müsse ihre Lageeinschätzung revidieren und Abschiebungen | |
| aussetzen, wie es in Schweden, Finnland oder Norwegen der Fall sei. | |
| Doch die Grünen handeln nach dem Motto: In der Opposition das eine sagen, | |
| in der Regierung das andere tun. Nach einer taz-Umfrage wollen mehrere von | |
| Grünen mitregierte Bundesländer an der umstrittenen Praxis festhalten, | |
| Menschen in das von Krieg und Not gebeutelte Land abzuschieben. Ein | |
| Beispiel ist Thüringen, wo Linkspartei, SPD und Grüne in einer Koalition | |
| regieren. | |
| Zuständig für Abschiebungen ist dort Migrationsminister Dirk Adams (Grüne). | |
| „Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil“, sagte sein | |
| Sprecher am Montag der taz. Thüringen schiebe ausschließlich Gefährder und | |
| Straftäter nach Afghanistan ab. Im Jahr 2019 habe es in Thüringen zwei | |
| Abschiebungen nach Afghanistan gegeben, vier im Jahr 2020 und bisher zwei | |
| im Jahr 2021, sagte der Sprecher. Und: „Es bleibt bei unserer | |
| Verfahrensweise.“ Eine bundeseinheitliche Abschiebestoppregelung sei aber | |
| zu begrüßen. | |
| Die Haltung der Thüringer Landesregierung ist bemerkenswert. Nicht nur die | |
| Grünen positionieren sich im Bund strikt gegen Abschiebungen nach | |
| Afghanistan. Auch SPD und Linke argumentieren mit Verweis auf die | |
| humanitäre Lage ähnlich. Im Moment ist es eine verbreitete Praxis in | |
| Deutschland, dass Straftäter und Gefährder nach Afghanistan abgeschoben | |
| werden. Den Weg dafür hatte die Große Koalition 2016 freigemacht und dazu | |
| ein Rücknahmeabkommen mit Afghanistan geschlossen. | |
| ## Die SPD bereut | |
| Über die Legitimität dieser Praxis wird nun wieder heftig diskutiert: Die | |
| Bundeswehr hat im Juni ihren fast 20 Jahre währenden Einsatz in Afghanistan | |
| beendet, auch die USA ziehen ihre Streitkräfte zügig aus dem Land ab. | |
| Parallel zu dem Abzug gingen [1][die islamistischen Taliban in die | |
| Offensive] und brachten mehrere Provinzen mit großer Brutalität unter ihre | |
| Kontrolle. | |
| CDU-Chef Armin Laschet und Innenminister Horst Seehofer (CSU) [2][wollen | |
| dennoch an den Abschiebungen festhalten], wohl wissend, wie das Thema an | |
| Stammtischen diskutiert wird. Seehofer argumentierte: „Wie will man denn | |
| verantworten, dass Straftäter nicht mehr in ihr Heimatland zurückgeführt | |
| werden können?“ | |
| In der SPD sind manche heute mit der damals getroffenen GroKo-Entscheidung | |
| nicht mehr glücklich. „Diese Überlegung ist voll auf der | |
| menschenfeindlichen Linie von Populisten“, sagte SPD-Chef Norbert | |
| Walter-Borjans der Rheinischen Post mit Blick auf Seehofer. „Auch | |
| ausländische Straftäter sind Menschen. Sie verdienen ihre Strafe, aber | |
| niemand hat das Recht, sie in den Tod zu schicken. Sollte das drohen, | |
| müssen Abschiebungen gestoppt werden.“ Damit spricht Walter-Borjans den | |
| Kern der Debatte an. Gelten für Straftäter dieselben Menschenrechte wie für | |
| andere – oder nicht? Die deutsche Abschiebepraxis beantwortet diese Frage | |
| mit einem Jein. | |
| Die NGO Pro Asyl argumentiert bei Afghanistan mit dem sogenannten | |
| Non-Refoulement-Prinzip, welches Teil der Genfer Flüchtlingskonvention ist. | |
| Es verbietet grundsätzlich die Ausweisung, wenn Menschen Folter oder | |
| schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. „Diese Regel gilt universell und | |
| für alle“, sagte Wiebke Judith, rechtspolitische Referentin bei Pro Asyl. | |
| „Sie kann nicht für manche Leute eingeschränkt werden, weil sie sich früher | |
| falsch verhalten haben.“ | |
| ## Was in Thüringen passiert, ist die Regel | |
| Die Grünen protestieren im Bund seit Jahren erbittert gegen die | |
| Abschiebungen – und sehen nun eine neue Dringlichkeit. „Die Zahl der | |
| zivilen Opfer hat nach dem Abzug der internationalen Truppen einen neuen | |
| erschreckenden Höchststand erreicht“, sagte Luise Amtsberg, die | |
| Flüchtlingsexpertin der Bundestagsfraktion. „Besonders Rückkehrer sind | |
| Gewalt und Verelendung schutzlos ausgeliefert“, betonte sie. „Unter diesen | |
| Umständen sind Abschiebungen nach Afghanistan schlicht | |
| menschenrechtswidrig.“ | |
| Das Problem ist nur: Das, was in Thüringen passiert, ist die Regel. Viele | |
| Bundesländer, in denen Grüne mitregieren, praktizieren genau das, wogegen | |
| die Partei offiziell kämpft. Sie schieben ab – gegen den Willen der | |
| Bundespartei. Beispiel Baden-Württemberg. Die Landesregierung unter | |
| Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) beteilige sich an | |
| Sammelabschiebungen nach Afghanistan, seitdem diese wieder möglich seien, | |
| sagte Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. „Ich würde mir | |
| dringend wünschen, dass sich die grün geführte Landesregierung der Haltung | |
| der Bundesgrünen anschließt – und die Abschiebungen stoppt.“ | |
| Aber das lehnte das zuständige Migrationsministerium unter Ministerin | |
| Marion Gentges (CDU) am Montag ab. Die Einschätzungen des Bundes seien mit | |
| Blick auf die Abschiebungen maßgeblich, sagte ein Ministeriumssprecher der | |
| taz. „Soweit hiernach weiterhin Abschiebungen möglich sind, wird sich das | |
| Land Baden-Württemberg an Sammelabschiebungen des Bundes beteiligen und | |
| hierbei im Interesse der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger bei den | |
| Chartermaßnahmen Straftäter und Gefährder zur Rückführung einplanen.“ | |
| In Schleswig-Holstein regieren die Grünen zusammen mit CDU und FDP in einer | |
| Jamaika-Koalition. Auch hier werden immer wieder Menschen nach Afghanistan | |
| abgeschoben, und auch hier will man dabei bleiben. Im Jahr 2021 seien | |
| bislang vier verurteilte Straftäter mit Charterflügen nach Afghanistan | |
| abgeschoben worden, sagte ein Sprecher des CDU-geführten Innenministeriums | |
| der taz. „Abschiebungen sind als letzte verbleibende Maßnahme im | |
| Ausländerrecht immer von Gerichten überprüfbare Einzelfallentscheidungen, | |
| bei denen unter anderem die Sicherheitslage vor Ort sowie mittlerweile auch | |
| die Auswirkungen der Pandemie zu berücksichtigen sind. An dieser Praxis | |
| hält Schleswig-Holstein fest.“ | |
| ## Schuld sind immer die anderen | |
| Das heißt, die Länder delegieren die Verantwortung an den Bund. Das | |
| Auswärtige Amt erstellt regelmäßig Lageberichte zu Afghanistan. Der taz lag | |
| der aktuelle, 26 Seiten lange Bericht im Juli vor. Das Auswärtige Amt | |
| stellte darin an mehreren Stellen veraltete oder falsche Behauptungen auf, | |
| [3][die die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan beschönigen]. | |
| Grünen-Chef Habeck sah es auch so. Die Bundesregierung tue in dem Bericht, | |
| „als wäre nichts geschehen“. | |
| Wäre das Thema nicht so ernst, gäbe es an dieser Stelle eine fast lustige | |
| Pointe. Denn die Bundesregierung erklärt die Länder für handlungsfähiger, | |
| als diese sich faktisch verhalten – und schiebt die Verantwortung zurück. | |
| Es gelte weiterhin der Grundsatz, „dass sich keine pauschalen Aussagen zur | |
| Gefährdung Einzelner in Afghanistan treffen lassen“, schrieb das | |
| Bundesinnenministerium am 29. Juli in einer Antwort auf eine | |
| parlamentarische Anfrage der Grünen-Abgeordneten Margarete Bause. Es fügte | |
| hinzu: „Es obliegt den zuständigen Behörden in den Ländern, im Einzelfall | |
| zu entscheiden, ob eine Rückführung unter Berücksichtigung des aktuellen | |
| Lageberichts nach geltendem Recht durchgeführt werden kann.“ | |
| Während manche Länder so tun, als könnten sie nicht anders, sagt das | |
| Bundesinnenministerium, dass sie sehr wohl könnten, wenn sie wollten. Auch | |
| Pro Asyl-Referentin Wiebke Judith sagt, dass die Länder auf eigene Faust | |
| handeln können. Sie hätten „die Möglichkeit, einen für drei Monate | |
| befristeten Abschiebestopp zu verhängen“, sagte sie. Jener könnte dann noch | |
| mal auf bis zu sechs Monate verlängert werden. „Das hätte politische | |
| Signalwirkung für den Bund – und würde den Menschen Sicherheit geben, die | |
| Angst vor Folter oder Tod haben.“ | |
| 2 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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