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# taz.de -- Vormarsch der Taliban in Afghanistan: Unheilvolle Vorahnung
> In den meisten eroberten Gebieten Afghanistans geben sich die Taliban
> bislang weniger extrem als befürchtet. Vor allem Frauen sind aber auf der
> Hut.
Bild: Taxi in der Stadt Herat, während in der Provinz gekämpft wird
Berlin taz | Am Dienstagnachmittag wurde die afghanische Hauptstadt
erstmals seit Monaten Schauplatz eines schweren Anschlags. Ein
Talibankommando verschaffte sich mit einer Autobombe Zugang zum Privathaus
von Verteidigungsminister Bismillah Muhammadi, von der Villa steht nun nur
noch ein bröseliges Betongerippe. Bis tief in die Nacht dauerten
Schießereien mit afghanischen Sondereinheiten an, dann waren die fünf
Besetzer tot, entweder erschossen oder mit eigenen Sprengstoffgürteln in
die Luft gejagt. Die Autobombe tötete mindestens vier Menschen, darunter
Passant:innen, und verletzte mindestens 14 weitere. Bismillah entkam
unverletzt.
Gleichzeitig hielten im südafghanischen Laschkargah die Kämpfe um den
Gouverneurssitz, das Provinzgefängnis, in dem viele Talibankämpfer sitzen,
und die Stützpunkte von Armee, Polizei und Geheimdienst an. Die Bevölkerung
sollte wegen einer Gegenoffensive der Armee die Stadt verlassen. Das setzte
eine neue Fluchtwelle in Gang. Bis Dienstag waren bereits 18.000 Familien
geflohen.
Auch in der drittgrößten Stadt Kandahar sowie nahe der nordafghanischen
Provinzhauptstadt Schibarghan hielten Kämpfe an. In Herat, wo Taliban am
Freitag einen Wachmann vor einem UN-Büro erschossen, scheint sich die Lage
beruhigt zu haben.
Der afghanischen Menschenrechtskommission liegen Berichte von Augenzeugen
vor, dass Taliban nach ihrer [1][Eroberung der Grenzstadt Spin Boldak] im
Juli nahegelegene Dörfer durchkämmt und mindestens 40 Menschen getötet
haben sollen. Ähnliches soll sich im Distrikt Malistan in der Provinz
Ghasni abgespielt haben. Die Kommission weist aber darauf hin, dass bei
einigen der Morde „persönliche Motive“ im Spiel gewesen seien, nämlich
Rache für eine Reihe von Folter und Mord durch die örtliche Polizei.
## Taliban hält Kliniken und Behörden am Laufen
In den meisten eroberten Gebieten zeigen sich die Taliban laut Beobachtern
erstaunlich „weich“. Sie beschränkten sich – jedenfalls bisher – darau…
den Moscheen dazu aufzurufen, dass Männer sich an die islamische Bart- und
Kleiderordnung halten und die Menschen „vermeiden“ sollten, fernzusehen und
Smartphones zu verwenden. Über Verhaftungen oder Hausdurchsuchungen, um wie
zu ihrer Regierungszeit bis 2001 diese Aufrufe auch durchzusetzen, wurde
bisher nicht berichtet. Auch Anfragen der taz in mehreren Provinzen ergaben
nichts.
Im Distrikt Surmat im Südosten verhinderten die Taliban laut
Stammesältesten und Aktivisten, dass die Bevölkerung wie andernorts
Verwaltungsgebäude plünderte. Auch Kliniken blieben geöffnet. In mehreren
Provinzen forderten sie die Behörden auf, ihre Arbeit wieder aufzunehmen.
Dem wurde wegen des Misstrauens den Aufständischen gegenüber nur sporadisch
Folge geleistet, besonders [2][unter Frauen].
Ein Stammesältester in der Ostprovinz Laghman sagte der taz, weibliche
Angestellte der örtlichen Bildungs- und Gesundheitsverwaltung würden weiter
arbeiten und seien auch nicht aufgefordert worden, nur in männlicher
Begleitung außer Haus zu gehen. Solche Vorfälle wurden etwa aus den
Provinzen Tachar und Dschusdschan gemeldet. Zu den befürchteten
Schulschließungen, [3][besonders für Mädchen], kam es nicht, da Unterricht
wegen der Coronapandemie ohnehin nicht stattfindet.
Schulen und Verwaltungen offenzuhalten, ist laut Talibansprecher Sabihullah
Mudschahed offiziell Politik der Bewegung. Er bezeichnete auch Berichte,
dass Frauen außer Haus männliche Begleitung benötigten, als „Gerüchte“.…
nicht heißt, dass sich Talibankämpfer auch überall daran halten.
## Frauen finden in Kabul Unterschlupf
Berichte, die Taliban hätten angeordnet, alle unverheirateten Frauen hätten
sich registrieren zu lassen, um mit Kämpfern verheiratet zu werden, gehören
wohl tatsächlich ins Reich der psychologischen Kriegsführung. Viele
Beobachter halten in mehreren Provinzen aufgetauchte Kopien eines solchen
Edikts mit Taliban-Briefkopf für eine geheimdienstliche Fälschung. In der
Provinz Bamian scheint ein talibanfreundlicher Mullah allerdings versucht
zu haben, dies tatsächlich umzusetzen. Der betroffene Bezirk fiel aber
bereits nach zwei Tagen zurück an die Regierung.
Trotzdem haben Familien aus mehreren Provinzen ihre weiblichen Angehörigen
nach Kabul geschickt, um der Gefahr solcher Übergriffe zu entgehen. Es gibt
auch keine Garantie, dass die Taliban ihre überwiegend weiche Linie nach
einer Machtkonsolidierung beibehalten werden.
So weit ist es allerdings noch nicht. In Kabul und anderen Städten waren
bereits vor dem gestrigen Anschlag Hunderte Menschen gegen die
Talibangewalt mit den Rufen „Gott ist groß“ und „Freiheit“ auf die Str…
geströmt. Ein Aktivist aus Laghman sagte aber der taz, er bezweifle, dass
viele Menschen dem Aufruf der Regierung folgen würden, sich gegen die
Taliban zu bewaffnen. „Nachdem so viele Distrikte gefallen sind, ist es
dafür zu spät.“
4 Aug 2021
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## AUTOREN
Thomas Ruttig
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