# taz.de -- Eroberungskrieg in Afghanistan: Kundus in Händen der Taliban | |
> Eine Stadt nach der anderen nimmt die Terrorgruppe in Afghanistan ein. | |
> Sie stößt auf wenig Gegenwehr – und kommt der Hauptstadt Kabul immer | |
> näher. | |
Bild: Kundus am 8. August 2021: zerstörte Geschäfte nach den Kämpfen zwische… | |
BERLIN taz | Der [1][Vormarsch der Taliban] hält bei steigendem Tempo an. | |
Seit Freitag eroberte die islamistische Terrorgruppe vier der 34 | |
Provinzhauptstädte Afghanistans, darunter am Sonntag den früheren | |
Bundeswehrhauptstadtort Kundus. | |
Was schwerer wiegt: Überall scheinen ihnen die Regierungstruppen – reguläre | |
Armee und Polizei sowie örtliche Milizen, die eher lokalen Warlords | |
gegenüber loyal sind als der Regierung von Präsident Aschraf Ghani – wenig | |
bis überhaupt keine Gegenwehr entgegengesetzt zu haben. | |
„[2][Afghanistan brennt] und wir sind unseres Schicksals nicht sicher“, | |
schrieb ein afghanischer Analyst am Samstag auf Nachfrage an die taz. „Die | |
Kampfintensität liegt jenseits unserer Vorstellung. Die Taliban erweisen | |
sich mit ihren schweren und leichten Waffen als überlegen, sind | |
entschlossener und fürchten keine Verluste. Ihr Niveau an Planung ist | |
unglaublich.“ Er ist fest überzeugt, dass die Taliban von Pakistan | |
unterstützt werden. Das war bereits bei ihrem Siegeszug Mitte der 1990er | |
Jahre ein wichtiger Faktor. | |
Als erstes fiel am Freitag Sarandsch, die Hauptstadt der Provinz Nimrus im | |
heißen, dünn besiedelten Südwesten des Landes an der Grenze zu Iran. Die | |
Stadt ist klein, aber wirtschaftlich wichtig. Zum einen führt dort eine | |
Grenzbrücke über einen ausgetrockneten Fluss direkt nach Iran. Darüber | |
werden Waren im Jahreswert von über 150 Millionen US-Dollar ausgetauscht. | |
Den besteuern jetzt die Taliban, wie an acht der elf wichtigen | |
Grenzübergänge, die sie inzwischen einnahmen. Zudem gibt es in der Wüste | |
von Nimrus zahlreiche illegale Grenzübergänge, über die Drogen, Treibstoff | |
und Menschen geschmuggelt werden. Die Steuereinnahmen an einem von ihnen, | |
Kang, schätzt der britische Experte David Mansfield auf weitere sieben | |
Millionen Dollar. | |
## Fast alle US-Truppen sind weg | |
Am Sonnabend fiel Schiberghan, im vor allem von Usbeken besiedelten Norden | |
des Landes. Das ist die Hochburg eines der wichtigsten Warlords in | |
Afghanistan, Abdulraschid Dostum. Ihm werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. | |
Präsident Aschraf Ghani, mit dem er sich zerstritten hatte, holte ihn erst | |
vor Kurzem aus der Türkei wieder ins Land zurück und verlieh ihm den | |
Fantasietitel eines Marschalls, um Dostums Milizen in eine | |
Anti-Taliban-Allianz einzubinden. Die Milizen aber gaben nach nur kurzer | |
Gegenwehr gegen die Taliban auf. Ähnlich war es am Samstag in Saripul, | |
Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, südlich von Schiberghan. Beide | |
Provinzen sind wegen ihrer Erdgasförderung ebenfalls wirtschaftlich | |
wichtig. | |
Ebenfalls am Samstag fiel dann Kundus, bereits zum dritten Mal nach 2015 | |
und 2016. Es war damals die erste Provinzstadt überhaupt, die die Taliban | |
seit dem Sturz ihres Regimes 2001 erobern konnten, wenngleich beide Male | |
nur für einige Tage. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch starke US-Truppen im | |
Land, sodass die Taliban sich in den Städten nicht lange halten konnten. | |
Die Truppen sind inzwischen fast vollständig abgezogen. So wie damals zogen | |
sich alle Regierungskräfte auf den außerhalb liegenden Flughafen zurück. | |
Aber auch wenn die US-Amerikaner in den vergangenen Tagen mehrmals | |
zugunsten der Regierungstruppen mit Luftangriffen in Kämpfe eingriffen, ist | |
es unklar, ob sie die Taliban in Kundus diesmal wieder aufhalten können. | |
Machen die Taliban in diesem Tempo weiter, könnten sie schnell weitere | |
Städte einnehmen und sogar auf Kabul marschieren. Am Samstag wurde auch | |
wieder verstärkt in Kandahar gekämpft, einer der vier größten Städte des | |
Landes und bis 2001 De-facto-Hauptstadt der Taliban. Dort erwarten | |
Sicherheitsexperten in den nächsten Tagen einen Angriff auf den stadtnahen | |
Distrikt Tachtapul, wohin die Taliban schon neue Kämpfer geführt haben | |
sollen. | |
Der Verlust kleinerer Provinzhauptstädte wie Sarandsch, Saripul und | |
Schiberghan ist für die Regierung politisch zwar ein enormer | |
Prestigeverlust und bringt ihre Kontrolle nun auch über Bevölkerungszentren | |
ins Wanken, ist aber militärisch noch zu verschmerzen. Der Fall von Kundus | |
hingegen wiegt schwerer. Er könnte den Weg nach Kabul öffnen. Bei der | |
letzten Eroberung von Kundus sagten afghanische Beobachter, „nun könnten | |
sie in drei Stunden in Kabul sein.“ | |
## Einigelung in der letzten Bastion? | |
Allerdings haben die Taliban es gar nicht nötig, von Kundus auf Kabul zu | |
marschieren. Südlich von Kabul kontrollieren sie schon seit Langem die | |
Provinzen Wardak und Logar gleich hinter dem Stadtrand. Sie könnten | |
zusätzliche Kämpfer aus der Region Kandahar oder dem Südosten, auch nur | |
drei Autostunden von Kabul entfernt, heranführen. Die taz erfuhr am | |
Samstag, dass die Taliban dort aus Pakistan – wo sie zahlreiche | |
Koranschulen mit afghanischen Schülern unterhalten – neue Kämpfer sammeln. | |
Auch ausländische Kämpfer sollen darunter sein. | |
Für die Regierung Ghani würde das die Einigelung in einer letzten Bastion | |
bedeuten. Wie in den anderen Provinzen könnten die Taliban auf den Kollaps | |
der Regierungstruppen spekulieren. Oder sogar auf Schützenhilfe einiger | |
Warlords, die jetzt noch formal auf Regierungsseite stehen, sich aber durch | |
Umschwenken eine weitere politische Zukunft sichern könnten. | |
8 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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