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# taz.de -- Umgang mit rechter Gewalt: Eine Frage der Verantwortung
> Rechte Gewalt geht nicht nur von jenen aus, die sie ausführen, sondern
> auch von denen, die das Klima für sie bereiten. Ein Umgang damit fehlt
> bislang.
Bild: Risse im Korpsgeist: Polizisten einer Einsatzhundertschaft bei einer Demo…
Es gibt eine neue Gewissheit hierzulande. Die Gewissheit, dass kein Monat
ohne einen rechtsradikalen Polizeiskandal vergeht. [1][Mitte Juli war es
eine Berliner Polizist:innengruppe. Erneut]. Ein Dutzend Beamt:innen
soll rechtsradikale Chatnachrichten ausgetauscht haben. Es ist das dritte
Mal in anderthalb Jahren, dass diese Berliner Zustände publik werden. Und
im Zuge der Aufarbeitung der rechtsextremen SEK-Zustände in Hessen schaffte
man es Mitte Juni, gleich für den nächsten Vorfall zu sorgen. Der
Wiesbadener Polizeipräsident Stefan Müller, der das SEK eigentlich neu
aufstellen soll, begann seine Arbeit mit dem rassistischen Spruch, [2][es
müsse niemand von den Beamt:innen fürchten, dass nun „das Spiel der zehn
kleinen N****“ starte].
Zu diesen Normalzuständen bei deutschen Ordnungskräften – skandalös als
Einzelfälle ausgegeben – gesellt sich das Bestreben, bereits ausgeführte
rechte rassistische Gewalt nicht nur als Akte von Einzeltätern zu deuten,
sondern auch den Beweggrund dazu im Individuum zu verorten.
Der Hanauer Attentäter ermordete am 19. Februar 2020 zehn Menschen, neun
davon aus rassistischen Gründen, die zehnte Person, seine Mutter, aus
mutmaßlich antifeministischer Motivation heraus. Das BKA spricht von einer
„eindeutig rechtsextremistischen“ und rassistischen Tat, der Täter habe
aber keine typisch rechtsextreme Radikalisierung durchlaufen. Immer wieder
werden sein Hang zu Verschwörungstheorien und seine krankhaften
Wahnvorstellungen herangezogen.
Auch das von der Bundesanwaltschaft in Auftrag gegebene psychologische
Gutachten attestiert dem Täter eine paranoide Schizophrenie als Grundlage
für sein Handeln, auf die eine „rechtsradikale Ideologie“ aufgesetzt
gewesen sei. Und der [3][Psychiater Manfred Lütz schrieb am 5. Juli in der
FAZ]: „Denn sowenig jemand, der vor hundert Jahren unter dem Wahn litt, der
Kaiser von China zu sein, ein Monarchist war, so wenig war der Hanauer
Täter genuin rechtsradikal und ausländerfeindlich.“
## Gekränkte Männlichkeit
Die Reaktionen auf den Anschlag verdeutlichen also in vielerlei Weise den
aktuellen Umgang mit rechter Gewalt. Die Strukturen, in denen die Täter
sich bewegen und von denen sie beeinflusst werden, darunter staatliche
Institutionen oder parteipolitische Programme, finden kaum Beachtung. Doch
es ist nicht so, dass der Hanauer Attentäter schizophren war und dann
rassistisch handelte. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit trägt immer
einen Wahn in sich.
Es ist auch kein Zufall, dass jene, die die Taten ausführen, fast allesamt
Männer sind. Eine gewalttätige gekränkte Männlichkeit charakterisiert sie.
Solche Männer fühlen sich als Verfechter der guten Sache, und indem sie
Selbstjustiz üben, sehen sie sich als die Gerechten ihrer Zeit. Sie sind
Durchschnittsbürger. Sie sind einer unter Unzähligen, einer, der all
diejenigen heimsucht, „die nicht unschuldig sind, das heißt diejenigen, die
nicht weiß“ und nicht männlich sind, [4][wie es die französische
Philosophin Elsa Dorlin in ihrem Buch „Selbstverteidigung. Eine Philosophie
der Gewalt“ benennt.]
Dass seit geraumer Zeit die Zustände bei Polizei, Bundeswehr,
Berufsfeuerwehr publik werden, verweist neben dem strukturellen Rassismus
auch auf eine intern veränderte Wahrnehmung. Wäre das nicht so, würden dort
gängige Verhaltensmuster kaum öffentlich werden. Der Korpsgeist bekommt
Risse, gebrochen ist er nicht.
In die gleiche Richtung tendiert das Bemühen der staatlichen Stellen,
gezieltere Schläge gegen rechte bewaffnete Strukturen umzusetzen. Im Zuge
dessen gab es Razzien, Festnahmen und Verbote, von der Gruppe Freital bis
Gruppe S, und sogar das [5][längst überfällige Verbot von Combat 18].
Keineswegs agiert der starke Staat hingegen rigoros, wie erst [6][jüngst
ein Bericht der antifaschistischen Rechercheplattform Exif] über das
international verbundene Neonazinetzwerk Hammerskins darlegte. Obwohl
ausreichende Informationen für ein Verbot vorlägen, so die Plattform,
bestehe „weder der Wille, die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren,
noch das Handeln der Gruppe zu unterbinden“.
Dass staatliche Stellen gegen andere staatliche Stellen und rechte
Strukturen vorgehen, hat, neben einer zumindest verkündeten neuen
Sensibilität, auch etwas mit dem Erfüllen einer grundlegenden Funktion zu
tun: dem Beweis von Handlungsfähigkeit. In etwa ist das auch die
Aufforderung [7][der Expert:innenkommission zur Polizei in Hessen.]
Deren Vizevorsitzender Jerzy Montag sagte: „Noch sind es Einzelne und
organisierte Minderheiten, aber es gilt, den Anfängen zu wehren.“
## Kein weitsichtiges Vorgehen
Wie stark diese Handlungsfähigkeit eines geforderten starken Staates
tatsächlich in die Organe hineinwirken wird und ob dies zu internen
Machtkämpfen führt, bleibt abzuwarten. Die höchsten staatlichen Stellen im
Land haben kein Interesse an einer Umsetzung der Bürgerkriegsfantasien der
organisierten Rechten. Die Frage ist also vielmehr, ob sie den
institutionellen Mittelbau und lokale Akteure in den Griff bekommen oder ob
diese bei einer Nichtzerschlagung ihrer Strukturen Schauplätze rechter
Gewalt entstehen lassen.
Noch gibt es keine 180-Grad-Wende, kein umfassendes und weitsichtiges
Vorgehen gegen rechte Gewalt. Dazu müssten zuallererst neue Fragen gestellt
werden.
Rechte Gewalt geht nicht nur von jenen aus, die sie ausführen, sondern auch
von denen, die das Klima für sie schaffen. Es besteht eine kommunikative
Beziehung zwischen dem, was in der Öffentlichkeit diskutiert oder von
Einzelpersonen wie Politiker:innen in sie hineinkommuniziert wird, und
dem, was letztlich auf virtuellen Plattformen, in Polizeizusammenhängen, in
Häusern von Burschenschaften besprochen wird. Diese Orte der internen
Debatte schweben nicht im Vakuum, sie sind die Fortführung und nicht die
Absonderung des gesellschaftlichen Raums.
Um diesen Zusammenhang und der im Anschluss erfolgten Gewalt in ihrer
Komplexität gerecht zu werden, ist das in den USA entwickelte Konzept des
„stochastischen Terrorismus“ nützlich. Massenkommunikationsmittel werden
demnach verwendet, um indirekt Einzelpersonen zu terroristischen Akten zu
bewegen. Das Zur-Tat-Schreiten ist dann „statistisch vorhersehbar, aber
individuell unvorhersehbar.“
Als stochastischer Terrorist gilt dabei nicht der, der zur Tat schreitet,
sondern die Person, die die entsprechenden Signale über die Medien sendet.
Und weil es keine direkte Verbindung zwischen dem stochastischen
Terroristen und seinem Zielobjekt, dem Gewalttäter, gibt, kann Ersterer
auch jegliche Verantwortung abstreiten. Die angesprochene Person kann dann
für eine Ausdifferenzierung rechter Gewalt stehen – wie bei Halle und
Hanau, wo der Täter nicht unmittelbar Teil einer organisierten Struktur vor
Ort war – oder für die Fortdauer traditioneller rechter Gewalt – wie im
Falle des NSU oder im Fall Kassels, wo sich die Täter in einem lokalen,
regionalen und bundesweiten Netz bewegten.
## Anschub für Radikalisierungsprozesse
Auf eine Kleine Anfrage der FDP, ob und inwiefern die Bundesregierung das
Phänomen des stochastischen Terrorismus gesondert untersucht, antwortete
diese Ende Mai 2020, dass die Begrifflichkeit „keine Anwendung“ findet, da
„sämtliche Tatfolgen“ bereits jetzt schon „eindeutig eingeordnet und
bearbeitet werden“.
Selbstverständlich findet der Begriff keine Anwendung. Täte er das, müsste
gefragt werden, wer hierzulande als stochastischer Terrorist gilt. Träfe
das allein auf die AfD zu? Oder würden auch ein
Bis-zur-letzten-Patrone-Horst-Seehofer, ein
Nein-zur-doppelten-Staatsbürgerschaft-Roland-Koch oder gar das komplette
Gesetzespaket zur Untergrabung des Rechts auf Asyl Anfang der 1990er Jahre
mit darunter fallen?
Wird dem Umstand Beachtung geschenkt, dass genau in solch einem durch die
Politik aufgeladenen Kontext das spätere NSU-Kerntrio seinen
Radikalisierungsprozess durchschritt und auch die Morde von Kassel, Halle
und Hanau zu einer Zeit erfolgten, in der nicht nur der rassistische
Diskurs als salonfähig gilt, sondern gleichermaßen die rassistische
Abschottungspolitik im europäischen Mittelmeerraum ihre Hochphase erlebt,
kommt unweigerlich die Frage auf, welche zukünftige Generation an Mördern
durch die stochastischen Terrorist:innen unserer Gegenwart die
Bestätigung und den Anschub für ihren Radikalisierungsprozess erfährt.
Für eine tatsächliche Problembekämpfung bedarf es neben dem Blick auf die
materiellen (ausführenden) und intellektuellen (befehlsgebenden), ebenfalls
den auf die diskursiven (legitimierenden) Täter:innen. Das macht das
Problem nicht einfacher behebbar: Aber Lösungsansätze wären konsequenter
und angemessener als es jetzt der Fall ist.
3 Aug 2021
## LINKS
[1] /Ermittlungen-gegen-Berliner-Polizisten/!5786938
[2] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-06/stefan-mueller-recht…
[3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/schizophrenie-die-attentaet…
[4] /Buch-ueber-Selbstverteidigung-und-Gewalt/!5743951
[5] /Rechtsextreme-Vereinigung-Combat-18/!5675027
[6] https://exif-recherche.org/?p=7180
[7] /Rechte-Chats-bei-hessischer-Polizei/!5781087
## AUTOREN
Timo Dorsch
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