# taz.de -- Arbeitsbedingungen beim Onlinedienst: Die prekären Helden | |
> Der Lieferdienst Durstexpress hat mit dem Konkurrenten Flaschenpost | |
> fusioniert. Dies ist jedoch kein Vorteil für die Mitarbeiter*innen. | |
Bild: Ein Mitarbeiter der Firma Flaschenpost bei der Auslieferung in Berlin | |
Die Geschäftsidee von Flaschenpost ist: schwere Getränkekisten bis an die | |
Wohnungstür bringen. Auch in die fünften Etage zu Supermarktpreisen, ohne | |
Liefergebühr. Nicht nur die Coronapandemie kurbelte [1][das Geschäft der | |
Getränkelieferdienste zuletzt kräftig an.] Ende 2020 kaufte der | |
Lebensmittelkonzern Dr. Oetker Flaschenpost – nach Medienmedienberichten | |
für rund 1 Milliarde Euro – und steckte seinen eigenen Lieferdienst | |
Durstexpress unter dessen Dach. Doch die Mitarbeiter*innen profitieren | |
vom Boom der Branche nicht. | |
„Zufrieden mit den Arbeitsbedingungen waren wir auch bei Durstexpress nie“, | |
sagt der frisch gewählte Berliner Betriebsrat Matthias Kobsa der taz, „aber | |
im Vergleich zu Flaschenpost war das der reinste Luxus.“ Nicht nur in | |
Berlin wollen sich die Beschäftigten organisieren, sondern auch in Dresden, | |
Leipzig, Düsseldorf und Köln. Flaschenpost-Sprecherin Sabine Angelkorte | |
versichert: „Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter [2][einen Betriebsrat] | |
gründen möchten, stehen wir dem selbstverständlich offen gegenüber.“ Doch | |
zuletzt war der Umgang des Unternehmens mit Mitarbeiter*innen, die einen | |
Betriebsrat gründen wollten, eher geprägt von Einschüchterungen, Anklagen | |
und Entlassungen, wie Mitarbeitende an mehreren Standorten der taz | |
berichten. | |
Ein zentraler Kritikpunkt der Betriebsräte ist das Lohnsystem. Die | |
„Helden“, wie Flaschenpost seine Fahrer*innen auf der Webseite betitelt, | |
würden „bis zu 13,90 Euro“ pro Stunde verdienen. Das wären immerhin 15 Ce… | |
mehr, als man bei Durstexpress bis Januar bekam. Arbeitsverträge und | |
Vergütungstabellen zeigen jedoch, dass offenbar nur ein Bruchteil der | |
„Helden“ diesen Betrag erreichen kann. Denn es gilt ein leistungsabhängiges | |
Bonus-System. Der Basis-Stundenlohn für Neue beträgt in Berlin 10,60, nach | |
zwei Jahren erst liegt er bei 11,40 Euro. Auf die genannten 13,90 Euro | |
kommt man nur mit einem Leistungsbonus von 2,50 Euro – und den gibt es nur | |
für die schnellsten 5 Prozent der Fahrer*innen. | |
## Das flexible Modell | |
Bei den Beschäftigten im Lager sieht es noch schlechter aus. Um den Bonus | |
von dort maximal 1,50 Euro zu bekommen, müssen sie nach Auskunft des | |
Berliner Betriebsrats derzeit 150 Kisten pro Stunde schleppen: Ein- und | |
Ausladen, Lieferungen zusammenstellen, Leergut abwickeln. Wobei für den | |
Bonus wohl nur zusammengestellte Lieferungen zählen. Das ist gut und gerne | |
eine zweistellige Zahl an Tonnen Gewicht, die in einer Acht-Stunden-Schicht | |
zu schleppen sind. Was durch das Bonussystem zudem nötig wird, ist die | |
Überwachung jedes Arbeitsschritts. | |
Ein weiterer Kritikpunkt ist das prekäre Schichtmodell. Vollzeitverträge | |
garantieren lediglich 20 Stunden die Woche, in vielen Teilzeit- und | |
Minijobverträgen werden gar keine Schichten garantiert. Dreimal täglich | |
kommen E-Mails mit freien Schichten, auf die Mitarbeiter*innen sich | |
dann bewerben müssen. Für Studierende mag das flexible Modell attraktiv | |
sein. Doch für Menschen, für die ihre Arbeit bei Flaschenpost die einzige | |
Einnahmequelle ist, ergeben sich viele Probleme aus der Flexibilität. | |
Zwar berichten manche Mitarbeitende auch, mit Schichtangeboten überhäuft zu | |
werden – aber im Krankheitsfall zahlt Flaschenpost laut Angabe von | |
Mitarbeitern nur die vertraglich garantierten Arbeitsstunden. Dafür | |
unterschreiben Arbeitnehmer*innen bei Flaschenpost eine Entbindung der | |
ärztlichen Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber, der taz liegt ein | |
Arbeitsvertrag vor, in dem eine solche Klausel enthalten ist. Auf eine | |
Bitte zur Stellungnahme hierzu reagiert das Unternehmen nicht. | |
## Nur befristete Arbeitsverträge | |
Für Betriebsratsmitglied Martin in Düsseldorf sind jedoch die Befristungen | |
das größte Problem. Von den rund 370 Beschäftigten an Martins Standort sind | |
laut Angaben des Betriebsrats nur sieben Personen unbefristet angestellt. | |
„Wenn du verlängert werden möchtest, überlegst du dir dreimal, ob du dich | |
krankschreiben lässt oder nicht“, sagt Martin. Martins Namen haben wir | |
geändert, er möchte nicht erkannt werden. Flaschenpost benutze eine | |
Ausnahmeregelung für Startups im Teilzeit- und Befristungsgesetz, sagen | |
der Betriebsrat und die Gastrogewerkschaft NGG, und könne deshalb vier | |
statt nur zwei Jahre lang befristete Arbeitsverträge ausstellen. | |
Auch für Betriebsratsarbeit sind die Befristungen ein Problem. Im April | |
letzten Jahres wurde in Düsseldorf der erste richtige Betriebsrat bei | |
Flaschenpost gewählt. Einen Kündigungsschutz gibt es nur für den | |
Wahlvorstand und die offiziellen Kandidat*innen. Noch bevor die | |
Kandidat*innen bekannt gegeben werden konnte, feuerte Flaschenpost am | |
selben Tag acht Vorarbeiter, die sich an der Betriebsratsgründung aktiv | |
beteiligten. Laut Angaben von Flaschenpost hätten die Leistung der | |
Mitarbeiter*innen nicht den Erwartungen erfüllt. Obwohl einige der | |
Entlassenen erst kurz zuvor befördert wurden. | |
Es konnte trotzdem ein Betriebsrat gewählt werden, und Flaschenpost verlor | |
vor dem Arbeitsgericht mit ihrer Klage gegen die Wahlen, aber deren | |
befristete Verträge wurden alle nicht verlängert. Auf Nachfrage der taz | |
äußert sich das Unternehmen hierzu nicht. Trotzdem fanden sich genug | |
Kandidat*innen für eine Neuwahl, aber auch die blieb nicht lange | |
bestehen. Gewerkschaftssekretärin Zayde Torun von der NGG sagt: „Von den | |
dreizehn nachgewählten Betriebsräten sind mittlerweile nur noch neun | |
übrig.“ Die Verträge der Betriebsräte seien nicht verlängert worden. | |
„Wahrscheinlich müssen wir noch dieses Jahr Neuwahlen einberufen, weil bis | |
dahin bis auf den Vorsitzenden alle entlassen beziehungsweise nicht | |
verlängert sind.“ | |
## „Den Betriebsrat bekommen wir schon kaputt“ | |
Am ehemaligen Berliner Durstexpress-Standort in Moabit stießen | |
Kolleg*innen mit der Fusion Betriebsratswahlen an. Um die Fusion | |
abzuwickeln, schickte Flaschenpost denselben Regionalleiter, der in | |
Düsseldorf versucht hatte, den Betriebsrat zu verhindern, nach Berlin. | |
Dieser habe sich jedoch zunächst sehr kooperativ gezeigt. Der Betriebsrat | |
und die NGG waren zuversichtlich, dass die Wahl ohne Probleme über die | |
Bühne gehen würde. Doch eine Quelle aus dem Management berichtet der taz | |
über eine Sitzung, wo sich der Regionalleiter mit ganz anderen Worten | |
geäußert haben soll: „Den Betriebsrat bekommen wir schon kaputt.“ | |
Nach der Wahl im April legte Flaschenpost auch in Berlin Rechtsmittel ein. | |
Schon bei der Wahl des Wahlvorstands habe es Probleme gegeben, über die | |
sich Flaschenpost damals jedoch nicht beschwerte. Damit „im Sinne der | |
Mitarbeiter ein ordentliches Wahlverfahren sichergestellt wird“, klage das | |
Unternehmen jetzt gegen die Wahl, wie Pressesprecher Martin Neipp mitteilt. | |
In Köln drohte das Unternehmen laut Aussagen von Beschäftigten bei | |
Betriebsratsgründung mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen, falls | |
Mitarbeiter*innen an der Betriebsversammlung teilnähmen, und schickte | |
loyale Mitarbeiter*innen aus dem Management auf die Versammlung. | |
Wenige Wochen nach der gescheiterten Betriebsversammlung in Köln wurde | |
deren Initiator fristlos gekündigt: weil er wiederholt zu kurz Pause | |
gemacht hätte. Über die konkreten Vorwürfe zum Umgang mit Betriebsräten | |
wollte sich Flaschenpost nicht äußern. Man stehe Betriebsratsinitiativen | |
selbstverständlich offen gegenüber, „eine vertrauensvolle und konstruktive | |
Zusammenarbeit mit den Betriebsräten“ sei sehr wichtig. | |
## Ein Griff in die Trickkiste | |
Mithilfe einer Briefkastenfirma in Österreich änderte Flaschenpost im Jahr | |
2019 ihre Rechtsform in eine europäische Aktiengesellschaft (SE). Ein | |
Vorteil dieser Rechtsform: Das relativ weitreichende Recht, im Betrieb | |
mitzubestimmen, gilt nicht für einen SE-Betriebsrat. Diese sind ein reines | |
Informationsgremium. Drei Wochen nach der Umwandlung zur SE [3][berichtete | |
der Spiegel über ein internes Dokument von Flaschenpost], nachdem der | |
zehnköpfige SE-Betriebsrat von nur einer Person von Flaschenpost Münster | |
gewählt werden sollte. Ulf Henseline, Referatsleiter für die | |
Getränkewirtschaft bei der Gastrogewerkschaft NGG, hat Erfahrungen mit | |
SE-Betriebsratssitzungen gesammelt. „Es gab kaum Rückfragen, keinen | |
Beratungsprozess oder konstruktive Diskussionen mit dem Ziel und dem | |
Charakter einer Beteiligungskultur, wie wir sie bei der NGG aus anderen | |
Gremien kennen.“ | |
Die meisten Posten in SE-Betriebsräten von Personen aus dem Management | |
besetzt. Arbeitgeber sprechen mit Arbeitgebern über Arbeitnehmerrechte. Wer | |
in diesem SE-Betriebsrat sitzt, was sie machen und wie sie erreichbar sind, | |
das wissen die Beschäftigten von Flaschenpost nicht. | |
Flaschenpost ist ein weiteres Beispiel für einen Arbeitgeber, der mit | |
flexiblen Arbeitszeiten wirbt, wo die Flexibilität aber eigentlich nur dem | |
Unternehmen dient. Hier unterscheidet sich Flaschenpost wenig von den | |
anderen Unternehmen der sogenannten Gig-Economy. Dieser prekäre Sektor | |
weitet sich immer weiter aus und ist für viele junge Arbeiter*innen – | |
vor allem für Migrant*innen – eher zur Regel als zur Ausnahme geworden. | |
Eine persönliche Perspektive oder Familie auf dieser prekären Grundlage | |
aufzubauen ist schwierig. | |
Auch wenn Flaschenpost sich in Worten noch zur Sozialpartnerschaft bekennt, | |
kündigen sie diese in ihren Taten auf. Gewerkschaften ziehen sich oft aus | |
diesen prekären Bereichen zurück. Denn bei den schmalen Gehältern sind die | |
Mitgliedsbeiträge zu klein, und die hohe Befristungsquote verhindert eine | |
stabile, aktive Belegschaft. Umso erstaunlicher, dass sich junge | |
Mitarbeitende der Gig-Wirtschaft dennoch [4][für bessere Arbeitsbedingungen | |
organisieren]. Sei es bei Lieferando, Gorillas oder Flaschenpost. | |
24 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Lieferdienste/!t5452784 | |
[2] /Betriebsrat/!t5020538 | |
[3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/start-up-flaschenpost-wie-serios-ist-der-… | |
[4] /Arbeitsrecht/!t5009424 | |
## AUTOREN | |
Simon Zamora Martin | |
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