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# taz.de -- Streik beim Lieferdienst Gorillas: Arbeitskampf befristet
> Seit Wochen streikt die Belegschaft des Lieferdienstes Gorillas. Doch
> eine gewerkschaftliche Anbindung ist so wünschenswert wie riskant.
Bild: Mitarbeiter*innen bestreiken spontan ein Gorillas-Lagerhaus in Berlin
Es war am 8./9. Februar, 9. Juni, 30. Juni, 8. Juli: Die Abstände der
Streiks der [1][Beschäftigten des Lebensmittellieferdienstes] Gorillas
werden immer kürzer. Das Besondere an ihrem Kampf ist nicht nur, dass sie
das am schnellsten gewachsene deutsche Start-up bestreiken, sondern dass es
in einem prekären Sektor überhaupt passiert.
Die junge, migrantische, befristet eingestellte Belegschaft streikt mit
Betriebsblockaden [2][für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen]. Ohne dass
es einen Aufruf einer Gewerkschaft gibt, ohne Tarifverhandlungen.
Eigentlich ist das nach der restriktiven deutschen Rechtsprechung illegal.
Mit ihren Streiks stellen sie das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft
infrage. Welche Perspektiven hat der Kampf?
Die 23-jährige Zeynep Karlıdağ gehört zu den Sprecher*innen des Gorillas
Workers Collective (GWC), das die Proteste zu organisieren versucht. Sie
ist im Dezember 2020 aus der Türkei zum Studieren nach Berlin gekommen.
„Ich habe händeringend nach einem Job gesucht, aber nur Absagen bekommen,
weil mein Deutsch nicht gut genug war“, erzählt sie der taz. Bei Gorillas
hat sie im Februar begonnen. Offizielle Firmensprache ist Englisch.
Ein Großteil der Rider kämen aus Lateinamerika, erzählt Zeynep. Die meisten
aus Argentinien und Chile. Deutschland vergibt an unter 30-Jährige aus
beiden Ländern sogenannte Working-Holiday-Visa. Mit den deutschen
Abiturient*innen, die mit ihren Campern durch Neuseeland reisen und ab und
zu mal ein paar Wochen in der Landwirtschaft arbeiten, hat das wenig zu
tun. Für viele junge Menschen ist das Working-Holiday-Visum die
Möglichkeit, eine Zukunft im Ausland zu suchen. Doch [3][laut
Visumsbestimmungen] dürfen Personen aus Argentinien, Brasilien, Chile und
Uruguay nur ein halbes Jahr bei demselben Arbeitgeber einen „Ferienjob“
machen.
## Deutsches Streikrecht von 1934
Laut Angaben des GWCs wurde am vergangenen Donnerstag etlichen
Beschäftigten auf einen Schlag fristlos gekündigt, weil sie bereits mehr
als sechs Monate bei Gorillas arbeiteten. Ihre Antwort auf die
Entlassungen: Streik. Ein verbotener politischer Streik, weil er sich nicht
nur gegen die Praxis des Unternehmens richtet, sondern auch gegen
aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, unter denen viele Beschäftigte leiden.
In wenigen demokratischen Ländern gibt es ein so restriktives Streikrecht
wie in Deutschland. Bis heute bezieht sich die Rechtsprechung auf ein
Urteil des ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl
Nipperdey, nachdem nur Gewerkschaften [4][im Zuge von Tarifverhandlungen]
zu Arbeitsniederlegungen aufrufen dürfen. Auf den Urteilen von Nipperdey,
der für die Nationalsozialisten 1934 das Arbeitsordnungsgesetz
mitverfasste, beruht auch das Verbot von politischen Streiks in
Deutschland.
Vor allem waren es die Gastarbeiter*innen, die 1973 mit einer Welle von
wilden Streiks, zum Beispiel dem „Ford-Streik“, Urteile des Nazirichters
infrage stellten. Auch bei Gorillas sind laut Schätzungen von
Mitarbeiter*innen 95 Prozent der Belegschaft Migrant*innen. Auch ihr
Kampf richtet sich mitunter gegen rassistische Migrationspolitik.
Nicht nur der Inhalt, auch die Form des Kampfs der Gorillas-Beschäftigten
ist radikal. Seit dem Streik gegen die Entlassung des Riders Santiago am 9.
Juni in Berlin legen die Beschäftigten nicht nur die Arbeit nieder, sondern
blockieren erstmals die Eingänge der Filialen. Damit wollen sie verhindern,
dass Streikbrecher*innen den Betrieb aufrechterhalten.
Aus Managementkreisen heißt es, dass an jenem Tag zumindest ein Mitarbeiter
des Unternehmens entsandt worden sei, um Streikbrechertätigkeiten zu
übernehmen. Dass Streikende nicht nur dabei zusehen, wie andere Menschen
ihre Arbeit übernehmen, ist für deutsche Verhältnisse durchaus
ungewöhnlich. „Das ist doch nichts Besonderes“, sagt ein Kollege von
Santiago, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, der
taz. „2019 stand ich bei den großen Aufständen gegen das neoliberale Regime
in Chile fast jeden Tag auf den Barrikaden. Nicht nur hinter ein paar auf
den Kopf gestellten Fahrrädern.“
## Hohe Dynamik beim Arbeitskampf
Ein Transparent des GWC taucht in den letzten Protestaktionen immer wieder
auf: „Wir organisieren uns in weniger als 10 Minuten.“ Für Zeynep ist der
Spruch auch Ausdruck der Spontaneität.
Vom Streik am 30. Juni in Pankow hätten sie durch Zufall erfahren. Aus der
Frühschicht, die den Streik begann, hatte keiner Kontakt zum Gorillas
Workers Collective oder war je Teil einer Protestaktion gewesen.
Dies bestätigt der taz auch ein Rider aus Pankow, der den Streik initiiert
hat. Der Fall zeigt die hohe Dynamik des Kampfes, aber auch die noch
unzureichende Reichweite der Vernetzung der Beschäftigten. Auch von vielen
Missständen würden sie in Berlin noch nichts wissen, erzählt Zeynep. Aber
es wendeten sich immer mehr Kolleg*innen mit ihren Anliegen an das GWC
und sie würden selbst aktiv.
Solide Strukturen aufzubauen, aber sich auch bundesweit und international
mit Kolleg*innen zu vernetzen, sei eine der Aufgaben, die das GWC jetzt
angeht, erzählt Zeynep. Sie stünden bereits in engem Austausch mit
Kolleg*innen in anderen deutschen Städten.
Auch international entsteht ein immer engerer Austausch mit Gorillas-
Kolleg*innen. Ein Mittel, um die Interessen der Beschäftigten besser
vertreten zu können, ist ein Betriebsrat. Am 3. Juni, noch vor der
aktuellen Streikwelle, wählten die Beschäftigten bereits einen Wahlvorstand
für Betriebsratswahlen bei Gorillas.
## Verwirrung um Zuständigkeit
Doch ein Betriebsrat allein wird die Probleme der Beschäftigten nicht lösen
können. Nach deutschem Recht dürfen Betriebsräte nur „vertrauensvoll und im
Zusammenwirken“ mit dem Unternehmen die Einhaltung von Gesetzen und
Tarifverträgen überwachen.
Bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sind rechtlich nur durch einen
Tarifvertrag durchsetzbar. Hier braucht es eine Gewerkschaft, die
Tarifverhandlungen führt. In diesem Rahmen dürfen sie auch legal zum Streik
aufrufen.
Bisher standen die anarchosyndikalistische FAU und die DGB-Gewerkschaft NGG
den Ridern eher mit Rat als mit Tat zur Seite. Nach dem Einläuten der
Betriebsratswahlen erhob jedoch die NGG-Partnergewerkschaft ver.di Anspruch
auf die Vertretung von Gorillas, da diese zum Handel und damit nicht in die
Zuständigkeit der NGG gehörten, wie ver.di-Sekretärin Maren Ulbrich der taz
mitteilt.
Doch nicht nur die Konkurrenz zwischen den verschiedenen
Gewerkschaftsbürokratien macht den aktiven Beschäftigten Angst. Die
Streikversammlungen während der letzten Protestaktionen, wo über
Forderungen und Aktionen diskutiert und abgestimmt wurde, haben alle als
große Stärkung des Kampfs empfunden und neue Kolleg*innen in den Kampf
einbezogen. Viele Beschäftigte fürchten, dass ihnen die demokratische
Kontrolle über ihren Kampf entzogen wird, wenn der Bundesvorstand einer
DGB-Gewerkschaft darüber entscheidet, ob sie streiken dürfen oder nicht.
Aus ökonomischer Sicht lohnt sich ein Aufbau bei Gorillas für die großen
Gewerkschaften wenig. Die Löhne sind so gering, dass die Mitglieder nur den
Mindestbeitrag zahlen. Und auch die hohe Befristung und viele
Zeitarbeiter*innen sind ein Problem. Viele Rider haben gar keine
Verträge mit Gorillas, sondern werden durch die Zeitarbeitsfirma Zen Job
gestellt.
## Lohnausfall als Hindernis
Laut Teilzeit- und Befristungsgesetz könnte Gorillas als Start-up sogar
vier Jahre lang nur befristete Arbeitsverträge vergeben. Ein Mittel, das
der Konkurrent Flaschenpost beispielsweise gerne einsetzt, um lästige
Betriebsräte und aktive Mitarbeiter*innen loszuwerden, indem ihre
Verträge nicht verlängert werden. Doch bisher hat sich Gorillas noch nicht
getraut, einen größeren Gegenangriff zu starten.
Es würde wohl nur noch mehr Öl ins Feuer gießen und die Kämpfe weiter
zuspitzen. Viele Beschäftigte haben die Schnauze ordentlich voll und eher
weniger Angst, keinen vergleichbaren Job zu finden. Was Recht und Unrecht
ist, wird letztlich mehr durch das Kräfteverhältnis als von Gesetzen und
Urteilen definiert.
Ein anderes großes Hindernis für die Streiks war bisher der Lohnausfall.
Gerade bei den schmalen Gehältern kann ein Tag weniger Lohn die
Beschäftigten schon in finanzielle Bedrängnisse führen. Selbst wenn ver.di
oder die NGG Streikgeld zahlen würden, die wichtigen Trinkgelder entgingen
den Streikenden trotzdem. Seit dem 1. Juli sammelt das GWC deshalb selbst
Spenden für eine eigene Streikkasse.
13 Jul 2021
## LINKS
[1] /Arbeitsbedingungen-beim-Onlinedienst/!5777780
[2] /Arbeitssoziologin-ueber-Gorillas-Streiks/!5780452
[3] https://www.auswaertiges-amt.de/blob/207816/86bc1cf8d085561fed2c213ae860711…
[4] /Krankenhausbewegung-in-Berlin/!5779290
## AUTOREN
Simon Zamora Martin
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