Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ausbeutung auf dem Fahrrad: Zehn Minuten bis zur Lieferung
> Mike fährt für den Lieferdienst „Gorillas“, auf seinem eigenen Rad, für
> 10,50 Euro die Stunde. Aber er mag das Betriebsklima – und hofft auf
> Streik.
Bild: Man muss nicht zu Hause sitzen, Lieferdienste kommen auch in die Kneipe
Hamburg taz | Was kann jemand an einem Dienstagmittag so dringend brauchen,
dass er es sich liefern lässt? Mitten in einem gutbürgerlichen Hamburger
Stadtteil, wo niemand weiter als drei Ecken gehen muss, um den nächsten
Supermarkt oder Kiosk zu erreichen?
Offenbar einiges. Gebucht per App, zugestellt von einem Kurierfahrer
maximal zehn Minuten nach der Buchung, sind das an diesem Dienstagmittag
zwei Dosen gehackte Tomaten und 15 Gramm Koriander.
Und das läuft so: Mike, 23 Jahre alt, kurze braune Haare und sportliche
Figur, beginnt seine Schicht heute um 12 Uhr. Er geht in eines der sechs
Hamburger Warenhäuser des Lieferdienstes „Gorillas“, zieht eine Regenhose
an, setzt einen Helm auf, schnappt sich einen der riesigen Rucksäcke und
scannt die Lieferung, die ein „Picker“, also ein für das Zusammensuchen der
Waren zuständiger Kollege, gerade bereitgestellt hat. Zu dem Zeitpunkt
läuft die Zeit in Mikes App bereits – je länger der Picker gebraucht hat,
die Ware bereitzustellen, desto kürzer hat Mike noch, um sie zum Kunden zu
bringen. In diesem Fall: knapp sechs Minuten.
Mike heizt los. 25 km/h kann das E-Bike fahren, er fährt einen Kantstein
hoch, durch eine Unterführung, sehr nahe an einer Frau mit Hund vorbei,
einen schmalen, vollgeparkten Fußweg entlang. Kopfsteinpflaster ist bei der
Geschwindigkeit unangenehm, gefährlich auch, aber das ist der schmale
Fußweg bei dem Tempo ebenfalls.
## Leichte Pasta zwischen zwei Meetings
Vor Hausnummer 38 springt er vom Rad, dreht den Schlüssel im Schloss und
klingelt. In dem Moment kann er die App stoppen – eine Minute vor Ablauf
der Zeit. Im vierten Stock, Altbau, öffnet ein Mitte Dreißigjähriger Mann
im blauen Hemd, Typ „zwischen zwei Meetings im Homeoffice kurz eine leichte
italienische Pasta mit frischen Kräutern kochen“. Mike überreicht ihm die
Papiertüte aus dem Rucksack, wünscht noch einen angenehmen Tag, läuft die
Treppen hinunter und fährt zurück zum Warenhaus. Einen Euro Trinkgeld hat
er immerhin bekommen und auf dem Rückweg ist Kopfsteinpflaster okay.
Gorillas wird oft als das derzeit aggressivste unter den Start-ups der
Gig-Economy bezeichnet. Erst im vergangenen Jahr gegründet, schießen die
Online-Supermärkte, in denen man nicht physisch einkaufen kann, [1][in
Großstädten wie Pilze aus dem Boden]. In Innenstadtvierteln sind die
schwarz gekleideten „Rider“ mit den großen Rucksäcken längst Teil des
Stadtbildes, in Parks und auf Grünflächen liegen die bedruckten Papiertüten
des Unternehmens herum.
Bei der letzten Finanzierungsrunde im März gelang es der Firma, 245
Millionen Euro von Investor:innen einzusammeln, sie gilt als „Unicorn“,
als Unternehmen, das mehr als eine Milliarde Euro wert ist. In Deutschland
ist das Unternehmen in 18 Städten vertreten, darüber hinaus in den USA,
England, den Niederlanden, Italien, Frankreich und Belgien.
Mike verdient 10,50 Euro pro Stunde plus Trinkgeld. „Ich brauchte einen Job
und die brauchten Rider“, sagt er, so einfach sei das gewesen. Eine
Ausbildung als Handwerker hatte er abgebrochen – „zu frustrierend, was im
Baugewerbe an Ausbeutung abgeht“, sagt er. Nun ist er zwar im nächsten
ausbeuterischen Arbeitsverhältnis gelandet, aber einiges laufe auch gut bei
Gorillas: Der Zusammenhalt unter den Ridern sei groß, die Kolleg*innen
nett, sehr international, sehr jung, außerdem laufe die Kommunikation im
Unterschied zu anderen Gig-Economy-Jobs nicht ausschließlich über eine App.
## Fahrraddemo vor Warenhäusern
Gereizt habe ihn zudem der Arbeitskampf, sagt Mike. Der hat allerdings in
Hamburg noch nicht so richtig begonnen, obwohl die freie Gewerkschaft FAU
das gern will – sie organisierte in der vergangenen Woche [2][eine
Fahrraddemo von der Gewerkschaftszentrale zu mehreren Warenhäusern], um mit
den Ridern ins Gespräch zu kommen.
Höflich nahmen die Kurierfahrer*innen die Flyer an, sagten „Thank
you“, während sie zwischen zwei Touren neue Ware auf ihren Rücken luden.
Bei einer Kundgebung in Sichtweite zum Warenhaus im Schanzenviertel fuhren
die meisten Rider allerdings vorbei, offensichtlich ohne zu erkennen, dass
die 20 Personen mit Mikrofon und Transparenten sich an sie richteten. Die
FAU hat in Hamburg so wenig Mitglieder, dass man die genaue Zahl nicht
erfragen möchte, um sie nicht weiter zu schwächen.
„Aber das Potenzial ist da“, sagt Mike. „Auch international.“ In
Großbritannien streiken die Kuriere von Deliveroo, Uber-Eats und anderen
Anbietern schon seit Jahren wiederholt, [3][in Brasilien streikten
Essenslieferant*innen verschiedener Dienste] im vergangenen Jahr
landesweit. In Berlin blockierten Rider im Juni aus Protest gegen die
Kündigung eines Kollegen mehrere Warenhäuser. Es sind wilde Streiks, also
ohne gewerkschaftliche Vertretung und oft spontan, aber die Probleme sind
bei allen Lieferdiensten ähnlich.
Die Rucksäcke sind zu schwer, sagen Gorillas-Fahrer und fordern, sie auf
das Fahrrad zu verlagern. Die Warenhäuser seien oft unterbesetzt, sagt
Mike. Er habe das Gefühl, die Firma experimentiere noch, was sie den
Angestellten zumuten könne. Experimentieren im Sinne von: Wie wenig
Personal reicht, um den Betrieb gerade so am Laufen zu halten? Die
Lieferdienste werden zwar stark nachgefragt, aber sie bringen kein Plus,
denn so wenig wie die Kund*innen pro Lieferung bestellen, kann es sich
nicht rechnen. Der Gorillas-Gründer Kağan Sümer sagte in einem Interview,
die durchschnittliche Bestellmenge müsste auf 30 Euro steigen.
Mikes dritte Tour heute kommt immerhin in die Nähe dieses Werts: Eine
gestresste Frau mit lärmenden Kindern im Hintergrund nimmt die Papiertüte
mit Aufbackbrötchen und frischem Ingwer entgegen, eine Packung Linsen ist
auch darin, eine Packung Küchenpapier, Reinigungsmittel und Schoko-Donuts.
„Solche Bestellungen sind eher die Ausnahme“, sagt Mike. Die meisten
Lieferungen ähneln seiner ersten heute, die Leute ordern eher Chia Bowls,
Müsli oder Gemüse als Chips, Cola und Erdnüsse. Vor allem am Wochenende
abends bestellen die Leute hauptsächlich Alkohol.
Immerhin bietet Gorillas überhaupt feste Verträge, das entspricht nicht dem
Standard in der Branche. Wobei Lieferando seine Rider neuerdings
unbefristet anstellt. [4][Bei Gorillas ist das Arbeitsverhältnis auf ein
Jahr befristet], wovon sechs Monate Probezeit sind. Einen Betriebsrat zu
gründen, ist deshalb schwierig bis unmöglich.
Auch bei der Ausrüstung spart der Lieferdienst, die Regenhosen und Ponchos,
die es immerhin seit Kurzem gibt, sind von schlechter Qualität. Das Handy,
Hauptarbeitsgerät nach dem Fahrrad, müssen die Rider selbst stellen, es
gibt lediglich eine kleine Pauschale für mobile Daten und eine
Versicherung.
## Extremes Stresslevel
Die Warenhäuser seien teilweise in sehr schlechtem Zustand, sagt Mike, im
Sommer seien die Klimaanlagen ausgefallen und zum Pausemachen seien sie
auch nicht geeignet. Viele Kolleg*innen verzichteten deshalb auf ihre
Pausen. „Das Stresslevel ist extrem“, sagt Mike, als er zwischen zwei
Touren zum Warenhaus zurückradelt.
In der vergangenen Woche [5][verunglückte ein Gorillas-Rider in Berlin
schwer]. Ein Auto erfasste ihn, als er über eine rote Ampel fuhr. Er erlitt
Hirnblutungen, einen Wirbelbuch und Beinbrüche. Das „Gorillas Workers
Collective“, das hinter den Streiks steht, erklärte die Geschäftsführung
für mitschuldig an dem Unfall.
Langfristig müsse der Arbeitskampf auch darauf zielen, von den zehn Minuten
Lieferzeit wegzukommen, sagt Mike. Doch das ist schwierig, schließlich
stützt das Start-up mit dem Slogan „Faster than you“ sein Konzept auf die
zehn Minuten. Der CEO von Gorillas, Kağan Sümer, formuliert es so:
„Gorillas existiert, um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu
ermöglichen.“ Auch der Konkurrent „Flink“ verspricht die Zustellung
innerhalb von zehn Minuten.
Auch seine vierte Lieferung heute gibt Mike eine Minute vor Ablauf der
Stechuhr ab. Er läuft in den ersten Stock, der Kunde öffnet und nimmt die
Lieferung entgegen: Eine Fanta und einen Energydrink. Auch hier hat Mike
einen Euro Trinkgeld per App bekommen. Der Kunde ist geschätzt Anfang
zwanzig. Er wohnt direkt über einem Kiosk.
22 Aug 2021
## LINKS
[1] /Boom-von-Fahrrad-Lieferdiensten/!5789413
[2] /Ausbeutung-bei-Lieferdiensten/!5788454
[3] /Streik-der-Online-Kuriere/!5697921
[4] /Streik-beim-Lieferdienst-Gorillas/!5781113
[5] https://www.tagesspiegel.de/berlin/protest-radikalisiert-sich-tuerschloesse…
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
## TAGS
Lieferdienste
Schwerpunkt Armut
Ausbeutung
Arbeit
Gorillas
Gorillas
Lieferdienste
Lesestück Recherche und Reportage
Wilder Streik
Lieferdienste
## ARTIKEL ZUM THEMA
Arbeitgeber wie aus dem Urkapitalismus: Boykottiert die Gorillas
Startups wie der Lieferdienst Gorillas setzen voll auf Wachstum – und
zuletzt auf gute Arbeit für ihre Fahrer. Zeit, die App zu löschen!
Fahrradkuriere in Berlin: Gorillas feuert Mitarbeiter
Protest vor der Gorillas-Zentrale in Berlin. Mehr als 300 Rider sollen ihre
Jobs verloren haben, weil sie sich an wilden Streiks beteiligt haben.
Streik bei „Gorillas“: Sie sollen nicht durchkommen
Beim Lieferdienst Gorillas streiken mehrere „Warehouse“-Belegschaften. Die
Mobilisierung scheint breiter zu sein als bei letzten Arbeitskämpfen.
Boom von Fahrrad-Lieferdiensten: Auf Kosten anderer
Fahrrad-Lieferdienste wie Gorillas boomen. Doch was milliardenschwere
Unternehmen freut, geht zulasten der Arbeitsbedingungen.
Streik beim Lieferdienst Gorillas: Arbeitskampf befristet
Seit Wochen streikt die Belegschaft des Lieferdienstes Gorillas. Doch eine
gewerkschaftliche Anbindung ist so wünschenswert wie riskant.
Arbeitssoziologin über Gorillas-Streiks: „Solidarität ist etwas Gelebtes“
Beim Lieferdienst Gorillas treten Beschäftigte in wilde Streiks. Ein
Gespräch über die Chancen und Risiken des Arbeitskampfes in der
Gig-Economy.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.