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# taz.de -- Arbeitsbedingungen bei VW-Tochter: Sie sollen fahren, nicht pinkeln
> Bei der Volkswagentochter Moia wird die Arbeit über künstliche
> Intelligenz organisiert. Für die Arbeitnehmer*innen bringt das
> einige Probleme.
Bild: So märchenhaft wie im Miniatur-Wunderland geht es im echten Leben nicht …
Hamburg taz | Wenn das Auto der Arbeitsplatz ist, bedeutet eine kurze
Toiletten- oder Rauchpause einen größeren Aufwand als im Büro oder im
Homeoffice. Aber so umständlich wie für die Fahrer*innen von Moia sollte
es nicht sein. Bei der VW-Tochter, deren goldfarbene Elektro-Kastenwagen
meist geräuschlos und leer durch Hamburg und Hannover gleiten, müssen die
Fahrer*innen eine [1][Toilettenpause per Knopfdruck im digitalen System
beantragen]. Solche „außergewöhnlichen Pausen“ gehören nicht zur
„produktiven Zeit“, werden daher aus der bezahlten Arbeitszeit
herausgerechnet, und nur im Ausnahmefall überhaupt genehmigt. Aber das ist
nicht das einzige Problem, mit dem Mitarbeiter*innen zu kämpfen haben.
Am Anfang habe eigentlich alles ganz okay gewirkt, erzählt der Fahrer
Manuel Wagner (Name geändert). Doch dann hätten sich die Bedingungen bei
dem Start-up stetig verschlechtert. Moia wurde 2016 als Tochter des
Volkswagenkonzerns gegründet, um neue Mobilitätskonzepte zu entwickeln.
2017 startete eine Flotte in Hannover, 2019 in Hamburg.
Das Konzept „Ridepooling“ funktioniert so, dass mehrere Fahrer*innen im
Innenstadtbereich unterwegs sind und auf Anfragen der Kund*innen über
eine App warten. Ein Algorithmus berechnet die Routen so, dass mehrere
Fahrgäste eingesammelt werden, die in eine ähnliche Richtung wollen. Die
Entwicklung der [2][Apps, des Algorithmus, der Elektrofahrzeuge und der
Infrastruktur] liegt bei Moia, auch den Dienstplan erstellt ein
Algorithmus.
Aber nach dem Corona-Lockdown, in dem die meisten Angestellten in
Kurzarbeit waren, kam das Management plötzlich mit einigen Einschnitten für
die Mitarbeiter*innen um die Ecke, die es in bester Start-up-Manier,
also mit viel Dank für das Verständnis und die gemeinsame Kraftanstrengung,
als neues Arbeitszeitmodell verkaufte. Es beinhaltet die technische
Dokumentation jeder Arbeitszeitunterbrechung, auch den Toilettengang.
„Grundsätzlich werden solche Arbeitszeitunterbrechungen von der Arbeitszeit
abgezogen“, schrieb Moia Anfang Mai an die Mitarbeiter*innen. „Es ist
wichtig zu wissen, dass solche Unterbrechungen nur im Ausnahmefall
vorgenommen werden können, weil diese den laufenden technischen Betrieb in
extremer Weise stören.“
## Den Pausenort schreibt die KI vor
„Es kommt vor, dass du eine Unterbrechung beantragst, aber das System sie
dir verwehrt“, sagt Wagner. „Zum Beispiel, wenn es eine Stunde vor der
Mittagspause ist.“ Das mit den Pausen: auch so eine Sache. Zu Schichtbeginn
wissen die Fahrer*innen nicht, wann und wo ihre Pause sein wird, sie
haben nur ein grobes Zeitfenster. Der Algorithmus teilt es ihnen dann mit,
wenn es gut passt, weil die Nachfrage gerade niedrig ist. Sie steuern einen
vorgeschriebenen Ort an, in Hamburg sind das ausgewählte Parkplätze von
Einkaufszentren oder einem Krankenhaus. Per GPS-Ermittlung geht die
Pausenzeit automatisch los, sobald der Fahrer dort einrollt, abzüglich
einer Minute „Rüstzeit“, in der das Auto an eine Ladestation angeschlossen
werden muss.
Die Rüstzeiten wurden auch mit dem neuen Arbeitszeitmodell eingeführt: Vor
Schichtbeginn gibt es fünf, nach Schichtende zehn Minuten, in denen die
Fahrer*innen ein- und auschecken, das Fahrzeug auswählen, das System
hochfahren, eine Abfahrtskontrolle vornehmen, sich beim Pooling an- oder
abmelden und am Ende das Auto reinigen und laden müssen. „Das ist in der
kurzen Zeit unmöglich zu schaffen“, sagt Wagner.
Kein Problem, sagt Moia: Für die Vergütung zu viel gearbeiteter Minuten
könnten die Angestellten später einen Antrag auf Erstattung stellen. Das
gelte auch für unvermeidliche Toilettenpausen, räumte das Unternehmen ein,
nachdem die Gewerkschaft IG Metall Druck gemacht und Medien über den
Missstand berichtet hatten. Auf taz-Nachfrage betont die Moia-Sprecherin
Jennifer Langfeldt: „Wir widersprechen entschieden der Darstellung, dass
Toilettenpausen nicht vergütet werden. Toilettenpausen werden bei Moia
bezahlt.“ Das heißt, wenn man den Antrag stellt. Auch die Zeit, die man
dafür aufwendet, kann man sich zurückerstatten lassen: Zwei Minuten pro
Antrag sieht Moia dafür vor. „Viele Kolleg*innen verzichten lieber
gleich darauf“, sagt Wagner.
Wer nicht sauber arbeitet oder nicht bereit ist, Überstunden zu machen,
kann den Job schnell verlieren. Wie Frederik Bruns (Name geändert). Er
kandidiert als erster Betriebsrat am Standort Hamburg, Mitte Juli soll die
Wahl stattfinden. Aber schon die Unterschriften für die Kandidatur zu
sammeln, war schwierig, denn Bruns hat Hausverbot.
Am 4. Mai fand er morgens das Kündigungsschreiben in seinem Briefkasten,
ohne Poststempel. Es müsse ihm nachts per Bote zugestellt worden sein, sagt
er. Ein Grund für die außerordentliche fristlose Beendigung des
Arbeitsverhältnisses steht nicht auf dem Schreiben, das der taz vorliegt.
„Ich bin dem Unternehmen unbequem geworden“, vermutet der Fahrer, der seit
dem Start der Flotte in Hamburg dabei ist. Im Zuge der Betriebsratsgründung
hätten noch fünf andere Kandidat*innen das Unternehmen verlassen, alle
mit einer Abfindung, sagt Bruns. Nur er habe diese ausgeschlagen. Bruns
habe Flyer verteilt und in Firmenchats gegen das neue Arbeitszeitmodell
mobilisiert. Auch über die Pausenorte habe er sich häufig beim Management
beschwert.
## Sind menschliche Fahrer*innen bald überflüssig?
In einem Einkaufszentrum im Hamburger Norden etwa sei der vorgeschriebene
Pausenort direkt neben den Mülltonnen, [3][beim Asklepios-Krankenhaus]
direkt neben dem Corona-Testzentrum, beim Krankenhaus St. Georg betrug der
Weg zur Toilette acht Gehminuten. Bei den Rewe-Parkplätzen gibt es gar
keine Außentoiletten, dort müssen die Fahrer*innen an der Kasse nach
einem Schlüssel fragen – in Moia-Uniform, während hinter ihnen die
Einkaufenden Schlange stehen. „Das ist entwürdigend“, sagt Bruns. Gegen
seine Kündigung hat er Klage eingereicht, der Verhandlungstermin ist für
August angesetzt. Gegen das Hausverbot prüft er ein Eilverfahren.
Aber warum hat eine Volkswagentochter es überhaupt nötig, ihre
Mitarbeiter*innen so zu triezen und jede Pausenminute vom Lohn
abzuziehen? „Das Konzept ist nicht lukrativ“, vermutet Bruns. Tatsächlich
fahren die Sammeltaxis oft höchstens mit einem Gast ihre digital
berechneten Routen ab. Der Preis variiert je nach Nachfrage und ist vielen
potenziellen Gästen möglicherweise einfach zu hoch. Und dann noch die
Umwege, um andere Gäste einzusammeln? Muss ja nicht sein.
Zum anderen ist es kein Geheimnis, dass Moia an autonom fahrenden Autos
arbeitet. „Nach aktuellen Planungen soll es ab Mitte des Jahrzehnts einen
ersten autonomem Ridepooling-Betrieb auf Teilen von Hamburgs Straßen
geben“, bestätigt Moia-Sprecherin Langfeldt. Sie weist den Eindruck zurück,
die Maßnahmen zielten bereits jetzt auf ein langsames Ersetzen der
menschlichen Fahrer durch künstliche Intelligenz. Bruns hingegen sagt, er
habe das Gefühl, er und die anderen Fahrer*innen würden im vom
Algorithmus berechneten System immer mehr zum Störfaktor.
2 Jul 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Schipkowski
## TAGS
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