# taz.de -- Flucht aus Belarus: Auf nach Batumi! | |
> Immer mehr Belaruss*innen verlassen aus Angst vor Repressionen ihr | |
> Land. Olga Deksnis erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. | |
> Folge 101. | |
Bild: Auftanken in Batumi | |
Im August 2020 ging es los: Menschen, die gegen die illegitime Staatsmacht | |
protestierten, wurden mit Gewalt auseinander getrieben und zusammen | |
geschlagen. Viele Belaruss*innen begannen, ihr Land zu verlassen. Das | |
war logisch und verständlich. Denn [1][die Menschen waren nicht nur | |
eingeschüchtert, sondern misshandelt worden]. Einige verloren ihre | |
Fähigkeit zu handeln. | |
Uns schien, etwas sei dabei sich zu ändern. Die Belaruss*innen gingen | |
sonntags auf die Straße, versammelten sich in Höfen, tranken Tee und | |
bekundeten ihre Solidarität. Als auch noch die Fabrikarbeiter*innen | |
sowie die Belegschaft von Krankenhäusern, Universitäten und Schulen auf die | |
Straße gingen, sahen wir darin eine Chance und Hoffnung keimte auf. Doch | |
alle wurden fertig gemacht. Einige wurden gefeuert, andere mit Arrest | |
bedroht oder festgenommen, wieder andere des Landes verwiesen. | |
Und was sehe ich jetzt in Belarus? In den sozialen Netzwerken kursieren | |
Posts wie „Ich habe das Land für mindestens ein Jahr verlassen“, „Ich ha… | |
mein Kind in Kiew im Kindergarten angemeldet, solange ich so erschöpft | |
bin“, „Ich bin schon in Warschau, habe den Hund mitgenommen und warte jetzt | |
auf meinen Mann“, „Ich bin in Batumi, solange mein Mann, ein | |
Menschenrechtler, im Gefängnis ist.“ | |
Die belarussische Staatsmacht hat auch das geschafft. Der Schriftsteller | |
Wiktor Martinowitsch sagt dazu: „Im Ausland trinkt man Kaffee und um einen | |
herum sind nur Ausländer*innen. Aber es ist schön, am Morgen einen | |
Amerikano unter Belaruss*innen zu trinken. Andererseits ist die Hälfte | |
der Leute aus eigenen Telefonverzeichnis schon weg gegangen. Beim halb | |
leeren Zentralnij (ein berühmtes Café im Zentrum von Minsk) siehst Du jetzt | |
hinter dem Tresen weniger Bekannte, als in den Hauptstädten der Welt – sei | |
es im Norden, Süden oder Westen. In Minsk wird man nach und nach selbst zu | |
einem Ausländer. Wir erinnern uns aus der Psychologie an die Maslowsche | |
Bedürfnispyramide. Dort heißt es, dass nach dem zweiten Grundbedürfnis „Ich | |
habe geschlafen und bin nicht hungrig“ kommt: „Ich bin beschützt, habe | |
keine Angst und bin in Sicherheit“. | |
Belaruss*innen, die irgendwie mit den Protesten zu tun hatten, haben dieses | |
Grundgefühl von Sicherheit heutzutage nicht mehr. Wir nehmen | |
Beruhigungsmittel, aber die helfen nicht. Das Bedrohungsgefühl verstärkt | |
sich. So verlassen wir unser Land, um der direkten Gefahr zuvor zu kommen. | |
Ich habe mich ebenfalls dafür entschieden, nach Georgien und zwar nach | |
Batumi, zu gehen. Dort werde ich zusammen mit meiner Tochter in Sicherheit | |
sein. Übrigens: In dieser Stadt gibt es einen Chat für Belaruss*innen. Vor | |
einem Monat waren dort 500 Personen unterwegs, jetzt sind es schon 700. | |
Jemand hat darauf hingewiesen, dass dies ein trauriger Trend sei. Vor | |
kurzem begrüßten belarussische Aktivist*innen direkt auf der Landebahn | |
in der Nähe des Flughafens eine Maschine von „Belavia“ [2][mit | |
weiß-rot-weißen Flaggen]. | |
„Olga, wenn Sie irgendwo für ein paar Tage unterkommen müssen, dann erwarte | |
ich Sie“, schrieb mir Anna. Sie ist Übersetzerin und mit einem Juristen des | |
Menschenrechtszentrums Vjasna (Frühling) verheiratet, der im Gefängnis | |
sitzt und einer Straftat beschuldigt wird. Die Staatsmacht hat drei Kindern | |
ihren Vater weg genommen. | |
„Wissen Sie, ich weiß gar nicht, was ich in dieser Situation sagen soll, | |
mit welchen Worten ich Sie unterstützen soll“, entgegne ich ihr. | |
„Worte sind nicht nötig, für uns es wichtig zu wissen, dass ein Mensch in | |
der Nähe ist. Wenn Sie keine Hilfe brauchen, kommen Sie einfach zu Besuch. | |
Während ich dabei war, eine Unterkunft in dem neuen Land zu suchen, habe | |
ich eine starke Solidarität der Belaruss*innen in Georgien gespürt. Die | |
Leute helfen einfach, obwohl ich um nichts bitte: Jemand will dabei | |
behilflich sein, eine Wohnung zu finden oder er bzw. sie bietet eine | |
Übernachtungsmöglichkeit an. | |
Jemand lädt zu einer Solidaritätskundgebung ein und alle antworten schnell | |
und ganz offen im Chat. So erkrankte beispielsweise ein Belarusse an Covid | |
und er benötigte dringend einen Apparat zur Rehabilitation. Innerhalb | |
weniger Tage sammelten die Belaruss*innen für ihn Geld. | |
Und in diesem Übergangszustand tauchte etwas in mir auf. Sollte ich nicht | |
diese schöne Stadt am Meer zeitweise zu einem Ort der Kraft und | |
Unterstützung für verfolgte Belaruss*innen machen? Jetzt überlege ich, | |
wie das finanziell zu stemmen ist. Aus Gesprächen mit Belaruss*innen in | |
Georgien weiß ich, dass das so aktuell wie noch nie ist. Und das wir alle | |
das brauchen. | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
4 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Olga Deksnis | |
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