| # taz.de -- Russische freiwillige Helfer in Georgien: Gegen die Schuldgefühle … | |
| > Russische Oppositionelle ziehen seit Kriegsbeginn vermehrt nach Georgien. | |
| > Viele von ihnen engagieren sich dort für ukrainische Geflüchtete. | |
| Bild: Russinnen und Ukrainerinnen vereint: ein Wochenendkindergarten für Gefl�… | |
| Ein Mann mit leicht ergrauten Haaren und gerunzelter Stirn sieht sich | |
| unsicher um. „Ich bin wegen Medikamenten gekommen“, sagt er auf Ukrainisch, | |
| spricht dabei aber niemanden direkt an. Eine schwarzhaarige junge Frau mit | |
| einem bunten Pullover zuckt zusammen. Sie steht hinter einem Tisch auf, | |
| spricht kurz mit dem Mann, verschwindet dann für ein paar Minuten und kehrt | |
| mit einer Schachtel Medikamenten zurück. | |
| Die Szene spielt sich in dem Freiwilligenzentrum „Emigration for Action“ in | |
| der Altstadt von Tbilissi ab, der Hauptstadt Georgiens. Das Zentrum wurde | |
| im April dieses Jahres von russischen Migrant*innen gegründet. Seitdem | |
| werden hier Medikamente an ukrainische Flüchtlinge verteilt, von denen es | |
| inzwischen über 35.000 in Georgien gibt. | |
| Die junge Frau heißt Amelija und ist 22 Jahre alt. Ihren Nachnamen und | |
| weitere Details aus ihrem Leben möchte sie lieber für sich behalten. | |
| Amelija ist erst vor ein paar Monaten aus Moskau zu ihrem Freund nach | |
| Georgien gekommen. Für das Zentrum arbeitet sie noch nicht lange, heute ist | |
| erst ihr fünfter oder sechster Tag. Ihre Aufgabe ist es, Rezepte | |
| entgegenzunehmen und dann die Medikamente zu verteilen. | |
| Amelija erzählt, dass sie jeden Tag von Gedanken an den Krieg in der | |
| Ukraine verfolgt werde. „Es ist unmöglich, in Frieden zu leben und so | |
| unbeschwert wie sonst zu sein, solange das dort alles passiert“, sagt sie. | |
| ## Hätte ich den Krieg verhindern können? | |
| Wie weiterleben, wenn deine Regierung ein Aggressor ist und dir das ständig | |
| vorgeworfen wird? Diese Frage stellen sich heute viele Russ*innen, die aus | |
| ihrer Heimat geflohen sind, nachdem Wladimir Putin die Ukraine angegriffen | |
| hat. Amelija erinnert sich, dass sie viel Zeit damit verbracht hat, darüber | |
| nachzudenken, ob sie etwas hätte ändern und den Krieg verhindern können. | |
| Aber jetzt ist es ihr schon „egal, ob ich schuld bin oder nicht. Ich muss | |
| einfach weitermachen und alles tun, was in meinen Kräften steht.“ | |
| Laut ihrem Monatsbericht hat die Organisation „Emigration for Action“ | |
| bereits fast 3.800 ukrainischen Bürger*innen geholfen. Etwa 60 | |
| Freiwillige arbeiten im Zentrum. Die Medikamente werden ausschließlich mit | |
| Spendengeldern gekauft. Allein in der vorvergangenen Woche wurden mehr als | |
| 20.000 Euro gesammelt. | |
| Einer der Gründer des Zentrums, der 23-jährige Moskauer Ewgeni Schukow, | |
| erzählt, die Idee sei anfangs gewesen, Medikamente in Georgien zu kaufen | |
| und in die Ukraine zu schicken. Doch das habe sich als zu teuer erwiesen. | |
| Zu den begehrtesten Arzneien zählen: Medikamente gegen | |
| Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Antidepressiva. | |
| Neben der Ausgabe von Medikamenten bieten die Freiwilligen hier auch eine | |
| erste psychologische Unterstützung an und helfen dabei, weitere | |
| Komplikationen durch belastende Erlebnisse zu vermeiden. „Aber das ist | |
| keine Therapie“, erläutert Ewgeni. „Wir lassen die Person einfach sprechen. | |
| Wenn wir sie nicht stabilisieren können, vermitteln wir sie weiter an einen | |
| Krisenpsychologen.“ | |
| ## Drei Prozent Russ*innen | |
| Jetzt, nach sechs Monaten, hat sich Ewgeni schon daran gewöhnt, mit | |
| Ukrainer*innen zu reden. Doch am Anfang war das schwierig. „Du wirst | |
| gefragt, wo du her seist. Ich sage dann: Aus Russland … Dann erst mal für | |
| drei Sekunden ein peinliches Schweigen … Jetzt mache ich einfach nur noch | |
| meinen Job“, sagt er. Wie fühlt er sich, wenn so viele Ukrainer*innen | |
| hilfesuchend zu ihm kommen? Pause. „Ich fühle, dass ich weitermachen muss. | |
| Und dass das eine wichtige Sache ist. Andere Motive habe ich nicht“, | |
| antwortet Ewgeni langsam. | |
| Schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges war Georgien ein | |
| bevorzugter Ort für all jene Russ*innen, die mit dem Putin-Regime nicht | |
| einverstanden waren. | |
| Angaben des georgischen Innenministerium vom 3. Oktober zufolge sind seit | |
| dem 24. Februar 2022 [1][mehr als 122.000 Russ*innen in die | |
| Südkaukasusrepublik] gekommen. Das sind [2][mehr als 3 Prozent] der | |
| Gesamtbevölkerung Georgiens. | |
| In den vergangenen acht Monaten fanden in Georgien mehrmals Proteste statt, | |
| bei denen die Einführung eines Visaregimes für Russ*innen oder sogar die | |
| Schließung der Grenze gefordert wurde. In Tbilissi tauchten an Häuserwänden | |
| Hunderte Graffitis auf, die die [3][Russ*innen dazu aufforderten, nach | |
| Hause zurückzukehren]. Laut einer soziologischen Umfrage der | |
| US-Organisation International Republican Institute (IRI) vom September sind | |
| 78 Prozent der Bevölkerung dagegen, Russ*innen ohne Visum ins Land zu | |
| lassen. Doch die georgische Regierung sieht das anders. | |
| ## Verdreifachte Wohnungsmieten | |
| Vor einigen Wochen sagte Ministerpräsident Irakli Gharibaschwili, dass | |
| Georgien mit einem Wirtschaftswachstum von 10,2 Prozent in diesem Jahr an | |
| „der Spitze aller europäischen Länder“ liege. Allerdings verschwieg er den | |
| Preis, den die vulnerabelsten Schichten der Gesellschaft für dieses | |
| Wachstum zahlen. So haben sich die Wohnungsmieten fast verdreifacht, was | |
| viele Studierende aus den Regionen daran gehindert hat, zum Herbstsemester | |
| nach Tbilissi zurückzukehren. | |
| Für die Mehrheit der Bevölkerung geht es jedoch nicht nur um die | |
| Wirtschaft. Nach einem fünftägigen Krieg im August 2008 besetzte Russland | |
| 20 Prozent des georgischen Territoriums und erkannte die Unabhängigkeit der | |
| abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien an. | |
| Ewgeni versteht, warum er und andere aufgefordert werden, nach Russland | |
| zurückzugehen. Aber dann erzählt er, dass er fünf Jahre lang politisch | |
| aktiv gewesen sei, er und viele andere jetzt aber nichts mehr ändern | |
| könnten. „Wenn sich in Russland etwas ändert, dann nur von oben“, sagt er. | |
| „Emigration for action“ ist nicht die einzige Freiwilligen-Initiative | |
| russischer Migrant*innen zur Unterstützung ukrainischer Geflüchteter. | |
| Nach dem 24. Februar wurden gleich mehrere von ihnen gegründet. Zum | |
| Beispiel „Choose to help“ – ein Organisation, die ebenfalls Geld sammelt | |
| und dafür Müsli, Hygieneartikel sowie Waschmittel kauft. Jede Woche kommen | |
| ukrainische Flüchtlinge hierher. Die Ausgabestelle befindet sich in einem | |
| Einkaufszentrum am Stadtrand von Tbilissi. Freiwillige sagen, der Besitzer | |
| habe ihnen den Platz kostenlos zur Verfügung gestellt. | |
| ## 1.400 Kilometer quer durch Russland | |
| Nastja Saretskowa, 32 Jahre alt, hat in Moskau als Managerin im Bauwesen | |
| gearbeitet. Diese Fähigkeiten kommen ihr hier sehr zugute. „Meine Aufgabe | |
| ist es, zu kontrollieren, dass niemand etwas vergessen hat. Und ich erkläre | |
| den Anfänger*innen, was sie tun sollen.“ | |
| Nastja Saretskowa ist im Mai nach Georgien gekommen. Seit fünf Monaten | |
| verbingt sie jede Woche 40 Stunden in dem Zentrum und kann sich kaum | |
| vorstellen, etwas anderes zu machen. Sie zeigt ein großes Journal, in dem | |
| bereits über 8.000 Hilfeempfänger*innen verzeichnet sind. | |
| 20 bis 25 Mitarbeiter*innen sind immer hier – darunter auch | |
| ukrainische Geflüchtete. Ljudmila ist 65 Jahre alt und stammt aus Cherson. | |
| Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Sie und ihr Mann sind Ende August in | |
| Georgien angekommen, dafür mussten sie, quer durch Russland, über 1.400 | |
| Kilometer zurücklegen. | |
| „Irgendwie lustig“, sagt sie, „jetzt bin ich in Sicherheit, aber das macht | |
| alles nur noch schlimmer.“ Sie möchte so bald wie möglich wieder nach | |
| Cherson zurückkehren. Wie steht sie zu den Russ*innen? „Kommt drauf an, | |
| welche“, sagt Ljudmila. Sie ist dankbar für die Hilfe, werde aber jenen | |
| Russ*innen, die die Aggression unterstützen oder schweigen, „nie vergeben“. | |
| Denn die hätten immer noch die Wahl. „Wissen Sie, wo ein Mensch keine Wahl | |
| mehr hat? Auf dem Friedhof.“ | |
| Ist die Freiwilligenarbeit vielleicht ein Versuch, die Handlungen der | |
| russischen Regierung zu rechtfertigen? „Nein“, antwortet Nastja Saretskowa. | |
| „Ich mache das nicht, weil ich Russin bin.“ | |
| Fast dasselbe sagt auch Amelija. Für sie sind die Graffitis in Tbilissi | |
| „eine erwartbare Reaktion“ und sie versteht, warum viele Georgier*innen | |
| sie hier nicht sehen wollen. Aber das ist nicht der Punkt. „Für diejenigen, | |
| die beweisen müssen, dass nicht alle Russ*innen schlecht sind, ist es | |
| unmöglich, das zu tun“, sagt Amelija. „Dass wir normale Menschen sind, | |
| müssen wir vielleicht zuerst uns selbst beweisen.“ | |
| 28 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sandro Gvindadze | |
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