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# taz.de -- Russen in Georgien: Ein steiniger Weg nach Europa
> In Georgien braucht es nicht nur Reformen. Auch der Umgang mit einer
> wachsenden Zahl russischer Migranten ist ein Gradmesser für die
> Beitrittsreife.
Bild: Wegen der vielen russischen Kriegsdienstweigerer hat Georgien Einreisebes…
Mehr als 80 Prozent der Georgier wollen in die EU. Doch dieses Verlangen
allein reicht nicht aus. Am 23. Juni wurde der Südkaukasusrepublik von
Brüssel eine „europäische Perspektive“ in Aussicht gestellt. Doch bei der
Vergabe des Kandidatenstatus ging Georgien, anders als die Ukraine und die
Republik Moldau, leer aus.
Um gleichzuziehen, muss Georgien die Gerichte von politischer Einflussnahme
befreien, die Freiheit der Medien gewährleisten, Rechte von Minderheiten
besser schützen sowie weitere Bedingungen erfüllen.
So weit, so gut. Wenn ich mir jedoch ansehe, wie herzlich der
Premierminister Georgiens, Irakli Garibaschwili, Ungarns Regierungschef
Viktor Orbán, und den Präsidenten von Aserbaidschan, Ilham Alijew, umarmt,
fällt es mir schwer, mir Georgien mit unabhängigen Gerichten oder ohne
Oligarchen vorzustellen.
In den vergangenen Monaten ist eine weitere Herausforderung hinzugekommen.
Nach dem Beginn von Russlands Angriffen auf die Ukraine flohen mehr als
300.000 Russen nach Georgien. Angaben des Innenministeriums vom 3. Oktober
zufolge sind von ihnen mehr als 112.000 geblieben und damit mehr als drei
Prozent der Bevölkerung.
In der Hauptstadt Tbilissi sind jetzt viele Orte zu finden, wo das Personal
in gebrochenem Englisch und mit russischem Akzent antwortet. Es ist fast
Mitternacht, als ich in eine Bar gehe. Sie befindet sich im Zentrum.
Plötzlich kommt es mir vor, als sei ich in einem kleinen Russland gelandet.
In dem überfüllten Saal ist nur Russisch zu hören. Die Witze, über die hier
gelacht wird, und deren Kontext verstehen die meisten Georgisch Sprechenden
nicht. Überall wird angeregt diskutiert. Bei welcher Schule die Kinder
anmelden? Welche georgische Bank ist besser? Ist es leicht, einen ständigen
Aufenthaltstitel zu bekommen? Und warum sehen georgische Buchstaben wie
Nudeln aus?
In den vergangenen Monaten habe ich mich viel mit russischer Migration
beschäftigt und bereits mit Dutzenden von Menschen gesprochen. Wie ist es
hier für sie? Die Mehrheit antwortet sofort, es sei sicherer als in
Russland. Besonders wird betont, wie toll es sei, keine Angst mehr vor der
Polizei haben zu müssen. Auch sei es billiger. Kurzum: Gut und bequem.
Vielen jungen Georgiern gefallen diese Antworten nicht. Sie wollen, dass
die Russen eins wissen: Sie sind in Georgien nicht willkommen. In Tbilissi
sind überall an den Häuserwänden Slogans aufgetaucht. [1][„Russians go
Home!“] ist dabei noch der harmloseste. Was denken die Russen, wenn sie
solche Sprüche sehen? Meistens lautet die Antwort „nichts“ oder „ich wei…
nicht“, seltener: „Ich verstehe das.“
Irgendwo dazwischen steht der 25-jährige Mischa Kadyrow. (Er betont, dass
er kein Verwandter des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow sei.)
Vor zwei Jahren ist er bei den Kommunalwahlen in St. Petersburg angetreten
und ergeht sich in langen Erklärungen über die starre Machtvertikale in
Russland. „Nun, wenn ich jetzt nach Moskau fahre und dort auf der Straße
ein Banner hochhalte, komme ich ins Gefängnis. Ja, und dann?“, fragt er.
Die meisten Migranten sind Georgien dankbar, dass sie bleiben dürfen.
Doch wenn du länger mit ihnen sprichst, fällt dir auf, dass sie von
demselben Gefühl der Ungerechtigkeit gequält werden wie Mischa Kadyrow.
Wenn mir jemand sagt, dass der Sturz von Präsident Wladimir Putin
unrealistisch und eine harte Forderung sei, halte ich dagegen: „Aber Sie
sind Bürger eines Landes, das Georgien 200 Jahre lang kolonialisiert, mit
Krieg überzogen sowie 20 Prozent seines Territoriums besetzt hat. Und
Georgien daran hindert, eine Demokratie aufzubauen. Was ist daran so schwer
zu verstehen?“
In der Regel kommt diese Reaktion unerwartet. Dann gibt mein Gegenüber zu,
sich mit den Einheimischen noch nicht unterhalten zu haben. Meine
Schlussfolgerung ist, dass weder die lokale Bevölkerung noch die russischen
Migranten zum Dialog bereit sind. Sie haben zu viel Angst voreinander.
Der Krieg von 2008 ist immer noch eine offene Wunde. Putins Angriff auf die
Ukraine hat bei den meisten Georgiern einen posttraumatischen Schock
ausgelöst.
Im Sommer 2020 hat die US-Organisation International Republican Institut
(IRI) in Georgien eine Umfrage durchgeführt. Die Frage lautete: Welches
Land ist für Sie politisch und wirtschaftlich die größte Bedrohung? 82
beziehungsweise 70 Prozent nannten Russland.
Dennoch ist die georgische Regierung zufrieden. Neulich gab
Ministerpräsident Irakli Garibaschwili bekannt, dass das Land ein
„beispielloses Wirtschaftswachstum“ von 10,2 Prozent vorzuweisen habe.
Allerdings vergaß er zu erwähnen, dass die Reichen wohl einfach noch
reicher und die Armen noch ärmer werden. Die Mieten in Tbilissi sind
mittlerweile fast um das Dreifache gestiegen, weshalb viele auswärtige
Studierende ihre Ausbildung dort nicht fortsetzen können.
Georgien steht jetzt vor einer neuen Herausforderung. [2][Der Weg, den das
Land eingeschlagen hat], erfordert nicht nur Reformen und eine
Harmonisierung der Gesetzgebung, sondern auch ein Bewusstsein für die
eigene Identität und bestimmte Werte. Ich habe mich noch nicht festgelegt,
was es für mich persönlich bedeutet, Europäer zu sein. Aber ich weiß, was
es nicht bedeutet, will heißen: Inwieweit wir uns auch für die
Menschenrechte russischer Migranten einsetzen, wird zeigen, ob wir bereit
sind, ein vollwertiger Teil Europas zu sein.
Ja, [3][die Grenze zu Russland wurde aus wirtschaftlichen Gründen nicht
geschlossen]. Ja, viele in Georgien empfinden Angst und Wut gegenüber
russischen Migranten. Doch ungeachtet dessen ist deren körperliche
Unversehrtheit nicht bedroht. Das ist zumindest ein Anfang. Und das ist
richtig so.
Georgien bestraft die Russen nicht für die Fehler ihrer Regierung. Ich
hoffe sehr, [4][dass die EU die Georgier nicht für deren Fehler
bestraft]. Falls doch, werden die vielen kleinen Russlands in Georgien zu
einem großen werden. Dann brauchen wir über Perspektiven, vor allem
europäische, nicht mehr zu reden.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
14 Nov 2022
## LINKS
[1] /Russenfeindlichkeit-in-Georgien/!5839786
[2] /Georgiens-gescheiterter-Nato-Beitritt/!5840294
[3] /Russen-fliehen-nach-Georgien/!5883416
[4] /Aktivist-zur-EU-Perspektive-Georgiens/!5860683
## AUTOREN
Sandro Gvindadze
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