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# taz.de -- Georgischer Erntehelfer flieht: Pflücken wie die Weltmeister
> Zum ersten Mal arbeiten Saisonarbeiter*innen aus Georgien auf
> deutschen Feldern. Doch es gibt Protest gegen die Arbeitsbedingungen.
Bild: Ein Knochenjob: Die Arbeit auf einem Erdbeerfeld
Es ist eine Premiere: [1][Zum ersten Mal arbeiten auch aus der
Südkaukasusrepublik Georgien Saisonarbeiter*innen] auf deutschen
Feldern. Denn offenbar ist diese Tätigkeit für immer weniger
Erntehelfer*innen aus Polen und Rumänien attraktiv. Dafür ist der
Knochenjob jedoch für Zehntausende in der ehemaligen Sowjetrepublik
verführerisch. Zumindest bis vor einer Woche war das noch so. Doch dann
ergriff ein Georgier, der auf einem Erdbeerfeld in Friedrichshafen
geschuftet hatte, kurzerhand die Flucht.
Jemal Chachanize ist mutig. Der 30-Jährige berichtete in einem Video
[2][über die schwierigen Arbeitsbedingungen], filmte andere Arbeiter*innen,
vor allem auch seine Landsleute, in Containern und auf dem Feld. Dann
schickte er die Filme georgischen Medien. In dem Video beschweren sich die
Arbeiter*innen, vor allem Frauen, dass sie doppelt so viel arbeiten
müssten, um zu dem Geld zu kommen, das ihnen versprochen worden sei. Sie
zeigen regennasse Wände, von Schlägen durchlöcherte Türen und zerstörte
Decken ihrer Wohncontainer.
Die Berichte von Chachanize haben in seiner Heimat große Empörung in den
sozialen Medien ausgelöst. Tausende georgische User*innen schrieben
Kommentare, wie: „Was die Deutschen machen, ist Menschenhandel.“ „Georgien
ist eine stolze Nation, doch die Deutschen haben uns zur Sklaverei
gezwungen.“
In weiteren Kommentaren heißt es, Europäer*innen machten diese Arbeit
nicht mehr und deswegen beuteten die Deutschen jetzt Menschen aus
entfernteren Ländern aus. Viele in Georgien machen dafür ihre eigene
Regierung verantwortlich. „Die Politiker schaffen es nicht, ihrem eigenen
Volk gut bezahlte Jobs zu geben. Deswegen lassen sich die Leute [3][auf
diese Sklavenarbeit] ein.“ Und: „Kommt alle in die Heimat zurück“. Auf
5.000 Stellen sollen sich nach Angaben des Verbandes Ostdeutscher
Spargelbauern rund 80.000 Interessent*innen aus Georgien beworben
haben.
## „Ich bin in einer Notsituation“
2009 stärkte die EU ihre Beziehungen zu sechs ehemaligen Sowjetrepubliken
unter dem Namen „Östliche Partnerschaft“, einem Teilprojekt der
Europäischen Nachbarschaftspolitik. Ein Element ist die Möglichkeit für
Staatsbürger*innen der Partnerstaaten, visafrei innerhalb des
Schengen-Raums zu reisen. 2014 wurde Georgien dieses Recht eingeräumt.
Georgier*innen benötigen für Aufenthalte von bis zu 90 Tagen innerhalb
eines Zeitraums von 180 Tagen im Schengen-Raum kein Visum mehr.
Auch Jemal Chachanize machte von dieser Möglichkeit Gebrauch. Für die Zeit
vom 1. Mai bis zum 1. August 2021 erteilte ihm die Bundesagentur für Arbeit
eine dreimonatige Arbeitserlaubnis in einem Land- bzw.
Forstwirtschaftsbetrieb. Etwa eine Woche hat es Chachanize auf dem
Erdbeerfeld ausgehalten. „Ich bin in einer Notsituation. Ich habe keinen
Job, kein Geld und pendle von einer Stadt zur nächsten“, sagt er im
Gespräch mit der taz. Er versuche, Hilfe von der Georgischen Vertretung in
Deutschland zu bekommen, doch die habe ihn unter Druck gesetzt, weil er
vertragsbrüchig geworden sei.
## „Alles picobello“
Er höre zum ersten Mal, dass sein Mitarbeiter seit etwa zwei Wochen nicht
mehr bei ihm Erdbeeren pflücke, behauptet Walter Klink gegenüber der taz.
Der Besitzer von „Klink Verwaltungs- & Vertriebs GmbH“ am Bodensee kann
sich nicht erklären, wie das habe passieren können. Schlecht behandelt?
„Die Wohncontainer sind mit Sanitäranlagen picobello eingerichtet. Ich habe
für die Leute neue Bettbezüge und Kissen gekauft – alles picobello“, sagt
er. „Die Arbeiter*innen bekommen sogar jeden Tag von mir ein tolles
Essen: Schweinebraten mit hausgemachten schwäbischen Spätzle“. Ein bisschen
arbeiten müssten die Leute schon, sagt Klink dann noch.
Der Mindestlohn beträgt 9,35 Euro pro Stunde. So steht es im Vertrag.
Chachanize sagt, es werde jedoch nach Gewicht bezahlt: 3 Euro für 5
Kilogramm. Er schaffte maximal 10 Kilogramm in einer Stunde. „Ich bezahle
nach Leistungsprinzip“, erklärt Klink. Mit anderen Worten: noch mehr
knüppeln, um etwas mehr als einen Hungerlohn zu verdienen. „Ich habe
Rumän*innen, die 7 Kisten pro Stunde schaffen. Das macht 35 Kilogramm.
Damit verdienen sie 21 Euro pro Stunde“, sagt er und fügt hinzu: „Meine
Rumän*innen, die pflücken wie die Weltmeister.“
25 May 2021
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/erntehelfer-georgien-101.h…
[2] /Arbeitsbedingungen-fuer-Erntehelfer/!5704243
[3] https://www.youtube.com/watch?v=noOwlWh3PXs
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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