| # taz.de -- Nach Corona-Ausbruch auf Spargelhof: Raus nur noch zum Arbeiten | |
| > Auf einem Hof des Spargelbauern Thiermann sind 130 Beschäftigte | |
| > infiziert. Nun sind alle 1.000 Mitarbeiter*innen in | |
| > Arbeitsquarantäne. | |
| Bild: Erntehelfer auf dem Thiermann-Spargelfeld in Kirchdorf. Fotografieren wir… | |
| Kirchdorf taz | Es ist 6.35 Uhr. Über der [1][niedersächsischen | |
| Spargelstraße] ist gerade die Sonne aufgegangen. Zwei Busse rollen durch | |
| die Gemeinde Kirchdorf. Die Scheiben sind beschlagen, fast alle Sitzplätze | |
| belegt. Die Mitfahrer*innen tragen blaue OP-Schutzmasken. Vorbei geht | |
| es an Windkraftanlagen und stillgelegten Ölpumpen zu einem Spargelfeld. | |
| Kaum halten die Busse, drängen alle nach draußen und sprinten zum anderen | |
| Ende des Ackers. | |
| Bei Thiermann hat die Saison begonnen, und hier gibt es den ersten Ausbruch | |
| von Corona-Infektionen auf einem Spargelbetrieb in diesem Jahr. Der | |
| Spargelhof gehört zu den größten Deutschlands und beschäftigt etwa 1.000 | |
| Mitarbeiter*innen. 130 davon haben sich laut Gesundheitsamt Diepholz | |
| infiziert. „Wir hoffen, dass wir mit dem Konzept der engmaschigen Testungen | |
| und dem sofortigen Separieren der Kontaktpersonen die Ausbreitung sehr | |
| schnell eindämmen“, sagt Unternehmenssprecherin Anke Meyer. Die Produktion | |
| sei zurückgefahren, die Löhne würden weitergezahlt. | |
| Wegen der gestiegenen Inzidenz greift im Landkreis Diepholz die | |
| Bundesnotbremse. [2][Für alle Mitarbeiter*innen von Thiermann gilt | |
| eine sogenannte Arbeitsquarantäne]. Das Haus darf nur noch für den Weg zur | |
| Arbeit verlassen werden. „Zusammen arbeiten und zusammen leben“, nennt | |
| Meyer das Hygienekonzept. | |
| Die Firmenzentrale ist weiträumig umzäunt und abgesperrt. In den Hallen | |
| wird an acht großen Fließbändern die Ernte geputzt und sortiert. Das | |
| berichtet Barbara F., die dort mit etwa 80 anderen arbeitet, der taz am | |
| Telefon. Sie spricht Polnisch und will ihren echten Namen nicht in der | |
| Zeitung lesen. „Für die Gesundheit der Arbeiter*innen interessiert man | |
| sich wenig“, sagt sie. Pflichttests für alle Beschäftigten seien erst | |
| eingeführt worden, nachdem es mehreren Frauen schlecht ging und sie darum | |
| gebeten hätten, getestet zu werden. Wer einen Positivbefund hatte, sei | |
| freigestellt und isoliert worden. | |
| ## Problem Versicherung | |
| Barbara F. glaubt, dass sich das Virus ausbreiten konnte, weil die | |
| Beschäftigten immer wieder in unterschiedlichen Abteilungen eingesetzt | |
| worden seien und es deshalb viele Kontakte gegeben habe. Für sie selbst | |
| könnte eine Infektion fatale Folgen haben, sagt sie. [3][Wie mehrere ihrer | |
| Kolleg*innen habe sie keine Krankenversicherung.] | |
| In Deutschland haben sogenannte kurzfristig Beschäftigte erst nach 70 Tagen | |
| Anspruch auf eine Sozialversicherung. Um den Landwirt*innen | |
| entgegenzukommen, hat der Bundestag am 31. März die mögliche Dauer von | |
| kurzfristigen Beschäftigungen bis Oktober sogar auf 102 Tage ausgeweitet. | |
| Ab 2022 sind Arbeitgeber*innen zusätzlich verpflichtet, die | |
| Versicherung der Angestellten zu überprüfen. Thiermann leistet nach eigenen | |
| Angaben mehr als vorgeschrieben und hat für Notfälle eine Versicherung für | |
| die Arbeiter*innen abgeschlossen. | |
| Barbara F. kann dazu auf Nachfrage der taz nichts sagen. Sie hadert aber | |
| auch noch mit etwas anderem. Bevor sie nach Deutschland kam, habe sie sich | |
| beim Arbeitgeber telefonisch informiert, was sie verdienen könne, sagt sie. | |
| Dabei seien ihr bis zu 120 Euro pro Tag in Aussicht gestellt worden. | |
| Inzwischen würden in den Hallen immer wieder Listen mit den Tageslöhnen | |
| ausgehängt. „Da stand ganz oft etwas um die 40 Euro pro Tag.“ | |
| ## Ruhetage Mangelware | |
| 9,80 Euro müsse sie an Thiermann für Unterkunft und Verpflegung zahlen, | |
| dann blieben 30,20 Euro – für einen Arbeitstag von manchmal 10, 11 Stunden. | |
| Denn wie lange gearbeitet würde, hänge davon ab, wie viel Spargel gebracht | |
| wird. Ruhetage gebe es nicht. In ihrem Arbeitsvertrag sei von 34 Stunden | |
| pro Woche und Mindestlohn die Rede. Wie viel Barbara F. verdient hat, wird | |
| sie erst am Ende sehen, wenn sie den Lohn ausgezahlt bekommt. | |
| Piotr Mazurek vom [4][gewerkschaftlichen Beratungsnetzwerk „Faire | |
| Mobilität“] unterstützt mehrsprachig Saisonarbeiter*innen. Er kennt | |
| die Branchenprobleme. Neben den Versicherungen gehöre die | |
| De-facto-Unterschreitung des Mindestlohns durch Manipulationen bei der | |
| Arbeitszeit dazu, sagt er. Immer wieder berichteten Betroffene, dass | |
| Ruhezeiten nicht eingehalten würden und sie mehr als 10 Stunden am Tag und | |
| an 7 Tagen die Woche arbeiteten. | |
| Ein anderes Thema sei, dass die Unterkünfte oft überfüllt seien und viele | |
| Menschen sich sanitäre Anlagen teilen müssten. Laut Mazurek fehlen hier | |
| bindende Vorgaben der Politik – gerade in Zeiten der Coronapandemie: „Wir | |
| sehen, dass einer der Knackpunkte eine nicht-coronagerechte Unterbringung | |
| ist. Geteilte Sanitär- und Gemeinschaftsräume befördern die Ausbreitung.“ | |
| Die Arbeiter*innen von Thiermann sind über die Region verteilt in | |
| kleineren Häusern und größeren Unterkünften untergebracht. Überall gibt es | |
| Schilder: „Betreten des Werksgeländes verboten.“ Vor den Häusern stehen | |
| Sanitärcontainer. Für Infizierte hat der Betrieb in Kirchdorf ein | |
| Quarantänehaus geschaffen. Informationen in Deutsch, Rumänisch und Polnisch | |
| hängen an der Tür. Sicherheitskräfte stehen davor. Laut eigener Aussage | |
| sollen sie durchsetzen, dass niemand die Quarantäne bricht. | |
| ## Absprachen würden nicht eingehalten | |
| Einige Mitarbeiter*innen seien trotz Quarantäneverordnung einkaufen | |
| gewesen, berichten Anwohner*innen und Polizei. Barbara F. erzählt, sie | |
| nehme die Quarantäne sehr ernst. Ihr sei gesagt worden, dass sie bestraft | |
| werden könne, wenn sie das Haus verlasse. Dabei sei die Versorgung – anders | |
| als vor Anreise versprochen – nicht gut. Thiermann dementiert das. Die | |
| Arbeiter*innen würden versorgt, heißt es. | |
| Auf Anfrage der taz sagt man bei der Polizei Diepholz, nach ersten | |
| Unstimmigkeiten habe sich die Lage um die Unterkünfte beruhigt. Wie oft | |
| gegen die Quarantäne verstoßen worden sei, sei noch unklar. „Eine große | |
| Rolle hat die Information gespielt“, sagt Pressesprecher Thomas Gissing der | |
| taz am Telefon. Die Arbeiter*innen hätten über ihre Rechte und | |
| Pflichten aufgeklärt werden müssen. Ob gegen Arbeiter*innen oder den | |
| Betrieb Verfahren eingeleitet würden, müsse jetzt der Landkreis | |
| entscheiden. | |
| Fünf Tage nach dem Ausbruch sind auf den Spargelfeldern um Kirchdorf | |
| weiterhin etliche Erntehelfer*innen zu sehen, die randvolle Kisten zum | |
| Straßenrand bringen. Manche tragen Masken. Auf Nachfrage der taz sagt ein | |
| rumänischer Arbeiter, der gerade die Plane über dem Spargeldamm hebt, es | |
| sei „schon okay“. Ein Vorarbeiter in gelber Warnweste hakt nach, warum | |
| Fragen gestellt würden. Er will wissen, wer hier recherchiert, und beginnt | |
| unmittelbar zu telefonieren. Fotos? Interviews? „Der Chef sagt nein.“ | |
| ## Infektionsgeschehen nicht mehr diffus | |
| Nur wenige hundert Meter entfernt vom Betriebsgelände, auf der Hauptstraße | |
| von Kirchdorf, erzählt eine Frau, die aus Angst vor Konsequenzen in der | |
| Dorfgemeinschaft anonym bleiben will, Thiermann habe „die“ nicht im Griff. | |
| Sie berichtet von vermeintlichen Problemen mit Saisonarbeiter*innen – | |
| kann aber keine konkreten Beispiele nennen. Sie sagt weiter: „Jeder weiß, | |
| wie eingepfercht die leben.“ Gerade mit Corona verstehe sie das nicht. | |
| Andere Höfe könnten es besser. Der Ausbruch und der Lockdown für den | |
| gesamten Landkreis schade dem Ruf des Betriebs. „Ich kenne Leute hier im | |
| Ort, die werden keinen Thiermann-Spargel mehr kaufen.“ | |
| Auf der Website des Betriebs öffnet sich ein Pop-up-Fenster mit einer | |
| Entschuldigung bei den Einwohner*innen des Landkreises. Man wolle alles | |
| tun, um den Ausbruch einzudämmen. Vorerst hat das zum Teil geklappt, so das | |
| Gesundheitsamt Diepholz. Das Infektionsgeschehen sei nicht mehr diffus und | |
| mittlerweile auf die Wohnbereiche eingegrenzt. Neuinfektionen wurden keine | |
| mehr gemeldet. Bald könnte die Arbeitsquarantäne nur noch für Infizierte | |
| und Kontaktpersonen ersten Grades gelten. | |
| Die Webseite trägt derweil den Hinweis, eine Übertragung des Virus durch | |
| das Gemüse sei ausgeschlossen. | |
| 12 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Erster-grosser-Ausbruch-der-Saison/!5769450 | |
| [2] /Arbeitsquarantaene-auf-Spargelhof/!5765810 | |
| [3] /Arbeitsbedingungen-im-Agrarwesen/!5769049 | |
| [4] https://www.faire-mobilitaet.de/ueber-uns/++co++2bfb428a-04bb-11eb-b3b8-001… | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Trammer | |
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