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# taz.de -- Kritik an neuer Pflegereform: Dumping per Tarifvertrag
> Die Pflegereform sei missbrauchsanfällig, sagt Verdi und fordert
> Nachbesserungen. Gerade falsche Gewerkschaften müssten gebremst werden.
Bild: Wollen so nicht mehr: Pflegekräfte in Hamburg, Oktober 2020
Berlin taz | Die Pflegereform der Großen Koalition ist auch eine Lehre aus
der Coronapandemie, die der Öffentlichkeit vor Augen führte, [1][wie
schlecht bezahlt und überlastet Pflegekräfte in Deutschland sind.] Nun
sollen einige Hunderttausend von ihnen durch Vorgaben zur Tarifbindung mehr
verdienen, verspricht Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) – und zwar bis
zu 300 Euro mehr im Monat.
Aber Gewerkschaften und Opposition übten am Mittwoch Kritik an dem Gesetz.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi forderte Nachbesserungen. „Es gibt im
Gesetzentwurf keinen Mechanismus, der Gefälligkeitstarifverträge zwischen
Pseudogewerkschaften und Pflegeanbietern, die weiterhin keine faire Löhne
zahlen wollen, ausschließt“, sagte Vorstandsmitglied Sylvia Bühler.
Auch mit solchen Tarifverträgen seien dann die Voraussetzungen für einen
Versorgungsvertrag erfüllt. Andere Arbeitgeber könnten dann ebenfalls
solche Dumpingtarifverträge bei der Bezahlung abschließen, argumentierte
Bühler. Das alles sei sehr missbrauchsanfällig und müsse abgestellt werden.
Deshalb solle in dem Gesetz ausschließlich auf relevante
Flächentarifverträge Bezug genommen werden. „Wir brauchen ein Gesetz, das
wasserdicht ist gegen die absehbaren Versuche vor allem der kommerziellen
Pflegeanbieter, Schutzwirkungen für die Beschäftigten zu umgehen.“
Auch vom DGB kam Kritik. „Die vorgesehene Kostenerstattung von
Pflegeleistungen bei Tarifbindung bringt den meisten Beschäftigten nichts,
solange nicht bundesweit ein guter allgemeinverbindlicher Tarifvertrag
gilt“, sagte Vorstandsmitglied Anja Piel. „Eine Tarifbindung ohne diesen
Tarifvertrag ist aber ein zahnloser Tiger und zementiert allenfalls das
große Lohngefälle zwischen Ost und West, Süd und Nord.“ [2][Die nächste
Bundesregierung müsse eine Pflegereform anstoßen, die diesen Namen
verdiene.]
## Was wird aus den Menschen?
Die Opposition sah die Reform ebenfalls skeptisch. „Spahns Paket reicht
nicht, um Pflege attraktiver zu machen“, sagte Linkspartei-Chefin Janine
Wissler. „Der kleine Fortschritt bei den Tarifverträgen bedeutet noch keine
umfassende Aufwertung des Berufs. Damit wird sich auch am Pflegenotstand
nichts ändern.“
Spahns Reform könne nicht verhindern, dass die Kosten auf die
Pflegebedürftigen und die Beitragszahlerinnen abgewälzt würden, weil er die
unzureichende Pflegeversicherung nicht angehen wolle. „Die beschlossenen
Zuschläge werden nicht reichen, um Pflegebedürftige vor steigenden Kosten
zu schützen.“
Kordula Schulz-Asche, die Pflegeexpertin der Grünen-Bundestagsfraktion,
sagte, dass sich der Reformbedarf der Pflegeversicherung in den
zurückliegenden Jahren angehäuft habe und schwer auf den Schultern der
Pflegebedürftigen und ihren Familien laste. „Was die jetzige
Bundesregierung als Änderungsanträge zu einem Aller-Welt-Gesetz vorlegt,
ist keine Pflegereform und lässt die Schuldenuhr bei den pflegebedürftigen
Menschen immer schneller ticken.“
Alles deute darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage sei, die
Probleme in der Pflege zu lösen. Stattdessen stellten ihre Versäumnisse die
künftige Regierung vor eine horrende Herausforderung. „Wir wollen die
Eigenanteile sofort senken und dauerhaft deckeln, um die pflegebedürftigen
Menschen und ihre Familien zu entlasten“, sagte Schulz-Asche.
Die pflegepolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Nicole Westig,
bezeichnete die Reform als „Stückwerk“. Sie thematisiere beispielsweise die
mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen, die zu Hause gepflegt würden,
überhaupt nicht. „Die pflegenden Angehörigen brauchen dringend mehr
Entlastung“, betonte Westig.
„Die Große Koalition muss außerdem klären, dass flächendeckende
Tarifverträge rechtssicher und verfassungskonform sind.“ Auch bei den
steigenden Eigenanteilen für stationäre Einrichtungen greife die Reform zu
kurz. Wer einerseits höhere Löhne für Pflegekräfte und andererseits
geringere Eigenanteile verspreche, müsse sagen, wie er das solide
finanzieren wolle.
2 Jun 2021
## LINKS
[1] /Pflegenotstand/!t5018339
[2] /Tarifvertrag-fuer-Pflegende-scheitert/!5752228
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
Arbeitsbedingungen
Gewerkschaft
Pflege
Bundeskabinett
Altenpflege
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