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# taz.de -- Prekäre Situation der Krankenpflege: Jenseits der Belastungsgrenze
> Seit über einem Jahr arbeiten Pflegekräfte am Limit – und darüber hinaus.
> Expert*innen warnen vor Massenabwanderungen aus der Pflege.
Bild: Besprechung auf der Covid-19- Station am Universitätsklinikum Leipzig
Berlin taz | Applaudiert wird für sie schon lange nicht mehr. Und auch der
Bundesgesundheitsminister interessierte sich in der vergangenen Woche
offenbar mehr für Schauspieler*innen, die [1][in zynischen Videos über
Coronamaßnahmen] jammern, als für die Pflegekräfte, die sich Tag für Tag um
diejenigen kümmern, die die Politik nicht zu schützen vermochte. Seit über
einem Jahr arbeiten die Pfleger*innen in den Kliniken an der
Belastungsgrenze.
„Es ist schwer“, sagt Helga Frerichs*, leitende Krankenpflegerin in Berlin.
„Die meisten Mitarbeiter sind erschöpft. Es ist ja auch kein Ende
absehbar.“ Frerichs leitet eine Covid-19-Station in einer mittelgroßen
Berliner Klinik. In ihrem Team haben im Laufe des vergangenen Jahres fünf
Mitarbeiter*innen gekündigt, erzählt Frerichs, die Stellen seien nicht
nachbesetzt worden. „Das ist schon heftig, das ist fast ein Drittel des
Teams.“
Künftig könnte es in vielen Pflegeteams so aussehen. Darauf deutet eine
aktuelle [2][Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische
Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)] hin. Befragt wurden
Beschäftigte der Intensivstationen, Notaufnahmen und Rettungsdienste. Knapp
ein Drittel der Pfleger*innen und Sanitäter*innen erklärten, ihren
Beruf in den nächsten zwölf Monaten aufgeben zu wollen.
Die Entwicklung ist nicht neu, doch Corona hat die Situation nochmal
verschärft. „Gefühlt würde ich gerade behaupten, dass sogar mehr als jeder
Dritte aus dem Job raus will“, erzählt Kerstin U., die in Hessen als
Intensivpflegerin arbeitet, mittlerweile als Leiharbeitskraft. „Mal ganz
abgesehen davon, dass es [3][viel zu wenig Personal] gibt, ist die
Bezahlung eine Schande und die Dienstzeiten nicht attraktiv. Es wird
angenommen, dass man immer bereit ist, einzuspringen.“
In der Pandemie ist die [4][Arbeitsbelastung weiter gestiegen]. Die Pflege
der Covid-Patient*innen ist aufwendig, das fängt schon damit an, dass jedes
Mal die volle Schutzmontur angelegt werden muss, bevor das Krankenzimmer
betreten wird. Zeit für Zwischenmenschliches, für Gespräche mit den
Kranken, ist selten. „Oft schafft man es nur, dass die Patienten am Leben
bleiben“, sagt Kerstin U.
## Immer unter Zeitdruck
Helga Frerichs berichtet ähnliches aus ihrer Klinik. „Man hat einfach keine
Zeit, sich angemessen um die Patienten zu kümmern. Teilweise konnte man
nicht mal oft genug reingehen, um ihnen genug zu trinken zu geben. Und das
ist nicht, wie meine Kollegen und ich Pflege verstehen. Man hat den Beruf
ja gewählt, weil man Menschen helfen will.“
Der Pflegeberuf war schon immer herausfordernd, doch was Pfleger*innen
in der Pandemie erleben, das hat ein anderes Ausmaß. „In der zweiten Welle
war es wirklich so, dass jeden Tag ein Patient gestorben ist“, erzählt
Helga Frerichs. [5][Belastend ist auch der Umgang mit den Verstorbenen]:
Sie müssen von den Pflegenden in Plastiksäcke verpackt werden, weil sie
auch nach dem Tod noch infektiös sind. „Das ist ein Riesenunterschied, ob
ich einem Verstorbenen würdevoll ein sauberes Laken über das Gesicht lege,
oder ob ich ihn in einen schweren, dicken Plastiksack verpacke.“
Auch Kerstin U. sagt: „Ich habe Kollegen, die sich nicht erinnern können,
wann sie das letzte Mal einen Dienst hatten, in dem sie keine Leiche in die
Kühlkammer gebracht haben. Das zerrt an den Nerven. Und das heißt aber
gleichzeitig, dass, sobald das Zimmer geputzt ist, der nächste Patient da
ist.“
Psychologische Unterstützung gibt es oft keine: Beratungsangebote seien
kein Standard in Kliniken, berichtet Carsten Hermes, Intensivpfleger und
Vorstandsmitglied der DGIIN. Lokal gebe es zwar immer wieder Initiativen.
Ob die auch genutzt werden, ist aber eine andere Frage. „Man redet auch
nicht so viel darüber, wie belastet man eigentlich ist“, sagt Helga
Frerichs.
Und doch ist die Belastung in Gesprächen spürbar – und sie hat Folgen.
Frerichs erzählt, sie sei selbst länger krank geschrieben gewesen, weil sie
„völlig erschöpft“ gewesen sei. Und sie wisse, dass viele
Mitarbeiter*innen aus ähnlichen Gründen ausgefallen seien, auch wenn
diese nicht offen darüber sprechen.
„Ich glaube, dass wir in den kommenden Jahren vermehrt mit psychischen
Erkrankungen zu tun haben werden,“ sagt Carsten Hermes, „und in jedem Fall
werden Menschen zu Schaden kommen, Betroffene, Patienten und auch die
gesamte Bevölkerung.“ Denn wenn in der Folge mehr und mehr Pflegekräfte
aussteigen, gingen damit Jahrzehnte an Erfahrung verloren. Das könne man
nicht einfach so ersetzen.
## Nachfuchs fehlt
Zudem fehlt es bereits jetzt an Nachwuchs. Ausbildungen würden zu oft
abgebrochen, berichtet Ingo Böing, Intensivpfleger und Referent für Pflege
im Krankenhaus beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe. Gleichzeitig
werde in den kommenden zehn Jahren eine große Zahl von Pflegenden in den
Ruhestand gehen.
Umso wichtiger ist es, eine Kündigungswelle nach Corona zu verhindern. Und
das geht nur durch bessere Arbeitsbedingungen. „Das heißt: Ich kann meine
Arbeit so durchführen, wie es fachlich angezeigt ist, und ohne
auszubrennen“, sagt Böing. Dazu gehört vor allem ein verlässlicher
Dienstplan, ein planbares Privatleben. „Eigentlich
Selbstverständlichkeiten“, findet Carsten Hermes. Neben einer gerechten
Bezahlung und einer guten beruflichen Entwicklungsperspektive sei daher die
Verbesserung der Personalsituation entscheidend.
Das Bundesgesundheitsministerium teilt derweil mit, die Regierung arbeite
„intensiv an Verbesserungen für die Situation der Pflegekräfte im
Krankenhaus“. Doch Helga Frerichs macht sich wenig Hoffnung auf rasche
Besserungen. „Ich sage es ganz ehrlich, wenn ich was finden würde,
außerhalb der Pflege, ich würde sofort wechseln.“ Und auch Kerstin U.
hadert inzwischen mit ihrem Beruf: „Ich denke ständig darüber nach
auszusteigen, weil ich das, was ich den Patienten teilweise antun muss,
nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann.“
*Name von der Redaktion geändert.
4 May 2021
## LINKS
[1] /Aktion-allesdichtmachen/!5762747
[2] https://www.dgiin.de/allgemeines/pressemitteilungen/pm-leser/online-umfrage…
[3] /Kliniken-und-Heime-in-Coronakrise/!5756415
[4] /Kliniken-an-der-Belastungsgrenze/!5760852
[5] /Coronahotspot-Sachsen/!5744927
## AUTOREN
Alena Weil
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Schwerpunkt Coronavirus
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