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# taz.de -- Kunst über Schwarz-Weiß-Denken: „Diese Strategie hat Tradition�…
> Die Umpolung der gezeichneten Welt: Marc Brandenburg zeigt im Palais
> Populaire in Berlin Werke, die sich mit Repräsentation auseinandersetzen.
Bild: Mit dem „Tarnpullover für Ausländer“ strickt Marc Brandenburg Rassi…
Der Tod trägt Dessous: Auf dem Bild steckt er in BH und Slip und steht in
einem Treppenflur. Den Kopf verhüllen eine Totenkopfmaske und eine spitze
Haube; die Haut erscheint schwarz, die Wäsche weiß, der Körper langgliedrig
und androgyn.
Es ist eben alles eine Frage der Perspektive. Marc Brandenburgs Bild „Der
Tod, eine Treppe herabsteigend“, das er 2017 von einem am Computer
invertierten, also zum Negativ verkehrten Foto abzeichnete, wird neben
seinem morbiden Charme subtil von der Intersektionalität der Kriterien
„Class – Race – Gender“ umrahmt. Denn weder Hautfarbe noch Gender noch
soziale Klasse (an der Wand des Treppenhauses meint man, Graffiti zu
erkennen) des Models sind eindeutig.
Der 55-jährige Berliner Künstler, dem mit der Ausstellung „Hirnsturm II“ …
Palais Populaire [1][nach vielen internationalen Gruppen- und Einzelshows]
endlich eine umfassende Retrospektive mit 130 Zeichnungen und einer Video-
und Rauminstallation gewidmet ist, illustriert seit mehr als 25 Jahren
seinen persönlichen „Hirnsturm“ in Form von urbanen und privaten Szenerien:
Kneipenabende aus den 80ern, Detailausschnitte von
Fridays-for-Future-Demos, Obdachlose in einer städtischen Landschaft oder
als kauernde Figuren, halbnackte Männer im Park, Freund:innen,
(Rock-)Stars.
Brandenburgs Motive werden durch die sorgfältige, freihändige
(Ab-)Zeichnung, deren technische Genauigkeit sie gleichermaßen realistisch
wie entrückt wirken lässt, dabei nicht nur unsterblich, sondern auf
sämtlichen Deutungsebenen hinterfragt.
## Schwarzlicht und Negative
Ein durch die invertierte Farbgebung schwer analysierbares Bild könnte eine
Waffe zeigen – in grauschwarzem Graphit explodieren nägelartige Teile und
bilden die Form eines Morgensterns. Bei genauerer Betrachtung des Werks,
das in der durch Schwarzlicht beleuchteten Haupthalle hängt, erkennt man
einen „Expandaball“ – ein eigentlich knallbuntes Plastikspielzeug, das si…
wie eine Blüte auffalten lässt und zu den „Stress Relievern“ zählt.
Ebenso vielfältig lesbar sind gezeichnete Negativfotos von leeren
Parkbänken, auf deren Rückenlehnen „ANTIFA“ beziehungsweise „HOMO“ ge…
wurde. Die „HOMO“-Bank scheint im Original mehrfarbig (Regenbogen?) zu
sein. Doch ist sie Statement oder Beleidigung, sollen und dürfen nur
„HOMOS“ darauf sitzen – oder wird man zum „HOMO“, wenn man sich dort
niederlässt?!
Das Umdrehen der Schwarz-Weiß-Stufen bei Brandenburg, das der schwarze
Künstler – genau wie das Ausstellen in Schwarzlichträumen, das diese
Umkehrung leuchtend verstärkt – schon lange immer wieder als Stilmittel
benutzt, führt in der Regel zu einer klassischen Schlussfolgerung der
weißen Mehrheitsgesellschaft: Es soll auf die PoC-Perspektive der Künstlers
hingewiesen werden.
Aber „das ist auch eine Form des Rassismus“, sagte Brandenburg in einem
Interview, „dass im Kunstbetrieb davon ausgegangen wird, dass ich mich 24
Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit meiner ‚schwarzen‘ Identität und
meiner Hautfarbe auseinandersetze. Das würde man von einem weißen Künstler
nie verlangen. Und seine Arbeit würde auch nicht automatisch im Hinblick
auf seine Hautfarbe gelesen.“ Mit der gleichen Logik müsste man sämtliche
weiße Leinwände weißer Künstler:innen zur politischen Aussage
deklarieren.
## „Tarnpullover für Ausländer“
Brandenburgs Ausstellung hat jedoch noch einen zweiten Teil: Die
Videoinstallation „Camouflage Pullover“ ist eine Weiterführung seiner 1992
als Reaktion auf die Rostocker rassistischen Ausschreitungen entstandene
Arbeit „Tarnpullover für Ausländer“. In der Ecke eines kleinen Raums hän…
bunt gemusterte Strickpullover, denen am Hals und den Armbündchen Wollköpfe
und Hände „angestrickt“ wurden – trägt man sie, schlüpft man in eine a…
„Haut“, eventuell gar in ein anderes Geschlecht.
Reduzierte Strickmaschen-Männergesichter und Hände in verschiedenen
(Haut-)Tönen, mit Wollvollbärten oder „asiatisch“ angedeuteter Augenform
verstecken den oder die Träger:in, lassen Gedanken zur Diversität und
Sichtbarkeit von PoC und zur „gestrickten“ kulturellen Aneignung ebenso zu
wie Assoziationen zum Thema Fetisch, das sich zuweilen nicht nur in Lack
und Leder, sondern auch in (hoffentlich nicht kratziger) Wolle offenbart.
Zudem wird die Affinität zum Modegenre deutlich: In den 80ern arbeitete
Brandenburg als Designer.
In den dazugehörigen Filmen, die über drei Leinwänden loopen, flanieren
Performer:innen in den Pullovern durch Berlin oder sitzen in
Spitzweg-Monet-Manet-Picknickbild-Manier auf einer Decke im Park. Die
Menschen unter der Wolle sind vermutlich diverser als ihre
Camouflage-„Masken“ – weiß, schwarz, männlich, weiblich, mit europäisc…
und asiatischen Wurzeln, und (unsichtbar, aber garantiert) queer und cis.
In einem Interview, in dem der zum Teil in den USA sozialisierte
Brandenburg von den TV-Sitcoms seiner Kindheit erzählt, heißt es: „Es ging
mir eher darum, Repräsentation […] auf den unterschiedlichen Ebenen lesen
zu können, sie zu erfinden, als Schutz zu nutzen. Die Feststellung, dass
Persönlichkeit, Identität nichts Festes sind, dass man damit
experimentieren kann – wie Samantha in,Verliebt in eine Hexe' – war eine
Befreiung. […] Ich denke ich stehe als schwules, traumatisiertes Kind nicht
alleine da, diese Strategie hat Tradition.“
## Michael Jacksons Hautfarbe invertiert
Diese Idee ist tief mit den Pullis verstrickt – neben einem in sämtlichen
Arbeiten fühlbaren Pop-Element: Brandenburgs Motive sind pluralistisch, bei
Weitem nicht alle düster – und die nicht-chronologische Hängung des Palais
verstärkt den demokratisierenden Eindruck. Ein Bild vom [2][Megastar
Michael Jackson,] dessen zunehmend heller modifizierte Haut durch die
Inversion dunkel erscheint, hängt neben invertierten Freund:innen.
Obdachlosen-Schlafsäcke formen psychedelische Muster der Isolation. Eine
Reihe quadratischer Bilder von 2010 scheint abstrakt einen schnellen
Pinselstrich nachzuahmen, bis man in einem von ihnen die blicklosen
Augenhöhlen eines Totenkopfs entdeckt. Vielleicht sieht man also auch die
Wellen eines Totenflusses, [3][die an Radierungen wie die des Illustrators
Gustav Doré erinnern.]
Der Kurator, Kunstjournalist und Kumpan Oliver Körner von Gustorf weist
vorweg in einem liebevollen Essay im Ausstellungskatalog auf motivische
Verbindungen zu Gilbert and George und deren Parkbilder hin und auf
Reminiszenzen an Cut-up-Techniken von den 10ern bis zu den 50ern des
letzten Jahrhunderts.
Indem Brandenburg seiner gezeichneten Welt die Farbe entzieht und sie
umpolt, indem er menschliche Hüllen strickt (besser stricken lässt, als
fleißige Strickliesel fungierte eine langjährige Freundin), kommentiert er
somit den Diskurs um „Class – Race – Gender“, ohne sich darauf
zurückzuziehen, ohne sich einzuschränken: Er wählt die Motive. Und er
strickt die Identitäten.
2 Jun 2021
## LINKS
[1] /Kunsttips-der-Woche/!5724314
[2] /Michael-Jackson-Ausstellung-in-Bonn/!5579555
[3] /Kunst-zur-BER-Eroeffnung/!5721993
## AUTOREN
Jenni Zylka
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