# taz.de -- Anklage gegen Lina E.: Gewaltige Vorwürfe | |
> Die Bundesanwaltschaft hat Anklage gegen Lina E. erhoben: Sie soll eine | |
> linksextremistische Gruppe angeführt haben. Die Beweislage ist | |
> umstritten. | |
Bild: Brandanschlag gegen rechtsextremen Szenetreff in Kloster Veßra | |
Diesmal bleibt es vorerst ruhig. Nachdem am Freitagnachmittag die | |
Bundesanwaltschaft die Anklage gegen Lina E. öffentlich machte, folgte kein | |
unmittelbarer Protest. Die Szene war vorbereitet. In den Vorwochen erhielt | |
wohl keine Linke so viel Solidarität wie die inhaftierte 26-jährige | |
Leipzigerin. „Free Lina“, lautet der Slogan auf Häuserwänden und | |
Stoffbeuteln. | |
Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft gegen Lina E. und drei weitere | |
Beschuldigte – Lennart A., Jannis R. und Jonathan M. – lautet Bildung einer | |
linksextremen kriminellen Vereinigung. In wechselnder Besetzung sollen sie | |
sich seit 2018 an fünf schweren Angriffen auf Rechtsextreme in Leipzig, | |
Wurzen und Eisenach beteiligt haben. Lina E. habe dabei eine | |
„herausgehobene Stellung“ innegehabt, habe Tatorte ausgespäht und bei | |
Übergriffen das „Kommando übernommen“. | |
Gegen Lina E. hatte über Monate die 2019 gegründete [1][Soko Linx in | |
Sachsen] ermittelt. Bereits am 5. November 2020 wurde die Studentin dann | |
[2][im Leipziger Stadtteil Connewitz festgenommen] und mit einem | |
Hubschrauber nach Karlsruhe zum Haftrichter geflogen. Seitdem sitzt sie in | |
der JVA Chemnitz. Das Vorgehen ist ein Einschnitt: Solch hochrangige | |
Ermittlungen und diese Härte gegen eine Linksradikale gab es lange nicht. | |
Die Sicherheitsbehörden sehen es aber auch als Stoppzeichen: Sie warnen | |
schon länger vor einer Radikalisierung in Teilen der linksextremen Szene. | |
Lina E. ist für sie eine der dafür Verantwortlichen. Aber die Behörden | |
verweisen auch auf weitere Übergriffe – zuletzt etwa in Thüringen. | |
## Die Vorwürfe | |
Schon im Oktober 2018 soll sie einen 23-jährigen Rechtsextremen in Wurzen | |
ausgespäht haben, der danach von fünf Vermummten mit Teleskopschlagstöcken, | |
Fäusten und Sprüngen angegriffen, gewürgt und „erheblich“ verletzt worden | |
sei. | |
Im Januar 2019 wurde dann ein Kanalarbeiter in Leipzig-Connewitz von vier | |
Angreifern niedergeschlagen, der eine Mütze mit rechtsextremem Logo trug. | |
Lina E. soll hier Passanten mit einem Reizstoffsprühgerät abgehalten haben, | |
Hilfe zu leisten. Auch dieser Mann wurde laut Anklage „massiv“ verletzt. | |
Im Oktober 2019 soll die Studentin dann mit rund einem Dutzend Vermummter | |
die Gaststätte Bull’s Eye in Eisenach angegriffen haben, die von dem | |
Rechtsextremen Leon R. betrieben wird. Mit Schlagstöcken wurde auf ihn und | |
fünf Gäste eingeschlagen, Inventar zerstört. | |
Zwei Monate später kamen die Autonomen wieder zu Leon R. Diesmal folgten | |
sie ihm bis zu seiner Wohnung und sollen dort mit Stangen, einem Hammer und | |
einem Radschlüssel auf ihn und drei Begleiter eingeprügelt haben, die sich | |
noch in ein Auto geflüchtet hatten. Lina E. soll den Angriff „kommandiert“ | |
und erneut mit Reizstoff angegriffen haben. | |
## Lebensgefährlich verletzt | |
Es war dieser Angriff, der die Ermittler auf die Spur von Lina E. brachte. | |
Denn bei der Heimfahrt stoppte die Polizei ihr Auto und ein weiteres | |
Fahrzeug, beide waren mit gestohlenen Kennzeichen versehen. | |
Und die Ermittler stellten fest: Tags zuvor war Lina E. in einem Leipziger | |
Baumarkt bereits bei einem Diebstahl von zwei Hämmern von einem | |
Sicherheitsmann erwischt worden. Ihm soll sie einen Stoß in den Bauch | |
versetzt haben, wurde aber dennoch kurz darauf gefasst. | |
Nichtsdestotrotz soll sich Lina E. im Februar 2020 an einem Angriff am | |
Bahnhof Wurzen beteiligt haben. Mit bis zu 20 Personen sollen dort sechs | |
Neonazis mit Schlagstöcken angegriffen worden sein, die von einem | |
Szeneaufmarsch in Dresden zum Gedenken an die Bombardierung der Stadt | |
kamen. Lina E. soll die Rechtsextremen in der Bahn ausgespäht und den | |
Angreifern ihr Auto geliehen haben. Auch hier soll es zu „potentiell | |
lebensgefährlichen Verletzungen“ gekommen sein. | |
Als im Juni 2020 schließlich das Wohnhaus eines Leipziger Rechtsextremen | |
durch Lina E. und andere ausgekundschaftet worden sei, schritt die Polizei | |
ein. Die Studentin wurde festgenommen, nach wenigen Tagen aber unter | |
Meldeauflagen wieder freigelassen – bis die Bundesanwaltschaft den Fall | |
übernahm und sie am 5. November erneut verhaften ließ. Laut den Anwälten | |
von Lina E. sollen zuvor Telefone und Gespräche in Autos überwacht und | |
Observationen und Finanzermittlungen durchgeführt worden sein. | |
## Bonnie-und-Clyde-Logik | |
Die Frage ist: Welche konkreten Beweise liegen vor, dass es tatsächlich | |
Lina E. war, die sich an den Übergriffen der Vermummten beteiligte und gar | |
Anführerin war? Die Bundesanwaltschaft äußert sich hierzu bisher nicht | |
öffentlich. | |
Die Verteidiger von Lina E. halten die Anklage dagegen für „mit heißer | |
Nadel gestrickt“. „Ein erheblicher Teil der Vorwürfe wird sich nicht | |
belegen lassen“, erklären Björn Elberling und Erkan Zünbül. Die Beweislage | |
sei teils „sehr dünn“. | |
So basiere eine Ausspähung auf einem einzigen Asservat, dessen Zuordnung zu | |
Lina E. „mehr als fraglich“ sei. Eine weitere Tatzuordnung beruhe darauf, | |
dass der Lebensgefährte von Lina E. daran beteiligt gewesen sei. „Wir gehen | |
nicht davon aus, dass solche Bonnie-und-Clyde-Logik vor Gericht Bestand | |
haben wird“, so die Anwälte. | |
Vor allem aber sei der Vorwurf der kriminellen Vereinigung haltlos: Der | |
Aktenband in der Ermittlungsakte dazu sei „komplett leer“. Als Beleg für | |
die Vereinigung führten die Ankläger vor allem die linke Einstellung der | |
Beschuldigten, so Zünbül und Elberling. „Die Soko Linx und die | |
Bundesanwaltschaft standen politisch unter Druck, endlich auch einmal | |
Ermittlungen gegen Linke zur Anklagereife zu bringen.“ | |
## Auf dem rechten Auge blind? | |
Die „Soko Linx“ sieht die Anklage gegen Lina E. dagegen als Erfolg. Denn | |
schon seit Langem häuften sich in Leipzig Brandanschläge und Angriffe auf | |
Polizeiwachen, eine Immobilienmaklerin wurde gar zu Hause aufgesucht und | |
ins Gesicht geschlagen – ohne dass Täter ermittelt werden konnten. Mit der | |
Gruppe um Lina E. gibt es nun zumindest für andere Delikte Tatverdächtige. | |
Die Connewitzer Linken-Landtagsabgeordnete Jule Nagel aber warnt vor einer | |
Vorverurteilung. Ob die Vorwürfe zutreffen, müsse ein rechtsstaatlich | |
faires Verfahren klären, sagt sie der taz. „Allerdings lassen der | |
Tatvorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung, die Stilisierung der | |
jungen Frau zur kaltblütigen, linksterroristischen Anführerin und die | |
Inszenierung ihrer Festnahme im November nichts dergleichen vermuten.“ | |
Auch sei auffällig, wie schnell in dem Fall Anklage erhoben wurde, während | |
die Justiz rechtsextreme Straftaten teils jahrelang verschleppe, so Nagel. | |
Anscheinend sei die Verfolgung von AntifaschistInnen vor der Bundestagswahl | |
„ein politisches Anliegen der zuständigen Behörden“. | |
Die Sicherheitsbehörden sprechen dagegen von einer „deutlich zunehmenden | |
Militanz“ in Teilen der linksradikalen Szene. Gerade in Leipzig schotteten | |
sich klandestine Kleingruppen ab, deren Straftaten brutaler und | |
persönlicher würden. Der frühere Szenekonsens, Gewalt nur gegen Sachen zu | |
verüben, sei hinfällig. | |
## Aktionen in Thüringen | |
In der linken Szene wird die Gewalt aber durchaus kontrovers diskutiert. | |
Den Angriff auf die Leipziger Immobilienmaklerin bezeichnete die | |
Interventionistische Linke als „daneben“, das Bündnis „Rassismus tötet�… | |
sprach von „absoluter Scheiße“. Im Fall Lina E. aber überwiegt bisher die | |
Solidarität: Für die Szene ist der Fall Teil einer überzogenen | |
Kriminalisierung von AntifaschistInnen. | |
Die Sicherheitsbehörden verweisen aktuell aber auch auf Thüringen – wo | |
derzeit eine Brandserie bei rechtsextremen Objekten läuft. Erst am Freitag | |
brannte es im Keller des Gasthofs „Zum Goldenen Löwen“ der [3][Szenegröße | |
Tommy Frenck in Kloster Veßra]. Auch ein benachbarter Imbiss wurde | |
angezündet. | |
Zuvor gab es bereits Brände beim Kampfsportstudio „Barbaria“ in Schmölln, | |
bei der Szenegaststätte in Sonneberg und der rechtsextremen | |
„Gedächtnisstätte“ in Guthmannshausen. TäterInnen konnten dazu bisher ni… | |
ermittelt werden. | |
Dazu gab es in der Nacht zu Freitag auch einen Angriff auf den | |
rechtsextremen Kampfsportler Julian F. in Erfurt. Fünf dunkel gekleidete | |
Personen mit „Polizei“-Aufschrift sollen die Wohnung aufgerammt, den | |
25-Jährigen geschlagen und auch seine Freundin gefesselt haben. In einem | |
Bekennerschreiben wird die Aktion als Vergeltung für die Teilnahme von | |
Julian F. an einer [4][rechtsextremen Randale 2016 in Connewitz] und einem | |
Angriff im Juli 2020 in Erfurt erklärt. | |
## Inszenierte Anschläge? | |
Einen ähnlichen Angriff gab es Mitte März in Sachsen: Dort wurde Paul | |
Rzehaczek, Bundeschef der NPD-Jugend, ebenfalls von Personen in | |
Polizeikleidung in seiner Wohnung in Eilenburg überfallen, die Angreifer | |
schlugen auf seine Beine ein. | |
Für Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer zeigen die persönlichen | |
Angriffe und Brandanschläge eine „neue Eskalationsstufe und zunehmenden | |
Enthemmung“ in Teilen der autonomen Szene, da hier auch der Tod von | |
Menschen in Kauf genommen worden sei. | |
„Aufgrund der gezeigten Brutalität und Professionalität bei der | |
Vorbereitung und Durchführung einzelner Gewaltakte durch vermutlich | |
klandestine, straff organisierte und bundesweit agierende Kleingruppen sind | |
deutliche Anzeichen von terroristischen Strukturen in diesem Teil des | |
Linksextremismus erkennbar geworden“, so Kramer zur taz. Da nun auch | |
rechtsextreme Racheaktionen zu befürchten seien, könne es zu einem | |
„Szenekrieg“ kommen. | |
Gerade zu den Bränden in Thüringen aber gibt es noch viele Fragezeichen – | |
auch für Kramer. Nicht ausgeschlossen sei, dass einige der Brandstiftungen | |
auch von rechts inszeniert seien, um die Stimmung gegen die linke Szene und | |
linke Parteien im Wahljahr zu manipulieren. „Einige der Brandstiftungen | |
passen nicht in die bekannten Modi Operandi“, bemerkt Kramer. Auch seien | |
einige Objekte versichert gewesen. Und: Tommy Frenck etwa hatte erst jüngst | |
einen Rechtsstreit um die Weiternutzung seiner Gaststätte verloren. | |
Lina E. sitzt derweil weiter in der JVA Chemnitz in Haft. Nach der Anklage | |
steht ihr ein Prozess vor dem Oberlandesgericht Dresden bevor. Ihre Anwälte | |
wollen beantragen, diesen nur für einen Teil der Vorwürfe zu eröffnen, | |
insbesondere nicht für den Vereinigungsvorwurf. Ein Prozessauftakt dürfte | |
wohl erst im Herbst zu erwarten sein. | |
Mitarbeit: Sarah Ulrich | |
30 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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