# taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: Alter, neuer Judenhass | |
> Auch unter Geflüchteten grassiert antisemitischer Hass. Doch | |
> Judenfeindlichkeit ist immer noch ein primär deutsches Problem. | |
Bild: Für die meisten antisemitischen Straftaten sind rechtsextreme Täter*inn… | |
Vor der Synagoge in Gelsenkirchen skandierten Demonstrant*innen | |
[1][„Scheißjuden“]. Bei einer Protestkundgebung in Berlin-Neukölln riefen | |
Teilnehmer*innen „Kindermörder Israel“. Im Internet kursierten | |
Anschlagsdrohungen gegen jüdische Einrichtungen. Einige scheinbar gut | |
integrierte syrische Flüchtlinge fielen durch Hassposts auf. | |
Während wir kürzlich noch über versteckte antisemitische Codes bei dem | |
Ex-Verfassungsschutz-Präsidenten [2][Hans-Georg Maaßen] diskutierten, rückt | |
nun der eskalierende israelisch-palästinensische Konflikt einen anderen | |
Aspekt des Antisemitismus in den Mittelpunkt. Wir reden nicht mehr über den | |
bis ins bürgerliche Lager der Mehrheitsgesellschaft reichenden | |
Antisemitismus, sondern über den bei Zugewandert*innen, Migrant*innen | |
und Muslim*innen. | |
Das macht deutlich, wie chamäleonartig Antisemitismus in der Gegenwart ist | |
– und wie verbreitet er in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommt. Er | |
kann lauthals und unmissverständlich herausgebrüllt oder subtil und | |
versteckt argumentierend angeteasert werden. „Scheißjuden“ ist an | |
Eindeutigkeit kaum zu überbieten, „Globalisten“ verstehen hingegen nur | |
Eingeweihte und Expert*innen als antisemitisches Codewort. | |
Zudem erkennen wir, wie sehr Antisemitismus unsere Gegenwart prägt. Wir | |
glauben gern, dass dieses alte Ressentiment der Vergangenheit angehört und | |
mit uns nichts mehr zu tun hat. Dies traf aber zu keinem Zeitpunkt in der | |
deutschen Nachkriegsgeschichte zu. Wer sich einredet, diesen mit ein paar | |
wohlfeilen Verurteilungen aus der Welt schaffen zu können, hat das Problem | |
nicht verstanden. Antisemitismus ist ein uraltes Gebilde, dessen Bekämpfung | |
Anstrengungen und Zeit kosten wird. | |
## 9 von 10 Täter*innen sind rechtsextrem | |
Nun wollen Politiker*innen die Marschrichtung vorgeben. | |
Interessanterweise verurteilt der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Armin | |
Laschet den „eingewanderten Antisemitismus“, als habe man ihm vor Tagen mit | |
Maaßen nicht noch ein Problem aus seinen eigenen Reihen vorhalten müssen. | |
Soll das jetzt so ausgelagert werden? | |
Beim Reden über den Antisemitismus der anderen entsteht schnell | |
Durcheinander. Warum sprechen plötzlich alle über Muslim*innen? Weil sie | |
sicher sind, dass die Menschen, um die es ihnen geht, so richtig | |
beschrieben sind? Weil deren Antisemitismus etwas mit dem Islam zu tun hat? | |
Weil sich der Gegensatz Israelis/Palästinenser umstandslos in Juden/Muslime | |
hier übersetzen lässt? | |
Wenn man die Zahlen analysiert, etwa die bundesweiten | |
Antisemitismusstatistiken zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) oder | |
die Berliner Zahlen der [3][Recherche- und Informationsstelle] (RIAS), | |
stellt man überrascht fest, wie randständig antisemitische Vorfälle von | |
Muslim*innen dort in den letzten Jahren waren. Laut RIAS waren in Berlin | |
2020 von insgesamt 1.004 Vorfällen 22 „islamisch/islamistisch“. | |
In der [4][PMK-Statistik] waren es 2020 maximal 71 von 2.351 | |
antisemitischen Straftaten. Wenn man säkulare Täter*innen mit | |
Migrationshintergrund noch dazuzählen würde, dürfte sich der Anteil zwar | |
etwas erhöhen. Doch selbst dann ist klar: Mehr als 90 Prozent der | |
antisemitischen Vorfälle gehen auf das Konto der Mehrheitsgesellschaft. | |
Beide Statistiker zeigen zudem: Für die allermeisten antisemitischen | |
Straftaten sind rechtsextreme Täter*innen verantwortlich. | |
Natürlich heißt das nicht, dass es in migrantischen oder islamischen | |
Milieus kein Problem gibt. Für 2021 werden wir in den Statistiken | |
voraussichtlich höhere Zahlen für diese Gruppe sehen. Die PMK-Statistik, | |
die es seit 2001 gibt, hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass | |
[5][Konfrontationen im Nahen Osten] die antisemitischen Straftaten | |
ansteigen lassen. | |
## Mehr Überfälle nach Konfrontationen in Israel | |
Es gibt hierzulande kaum Forschungen und Umfragen, die sich in diesem | |
Kontext speziell mit Personen mit Migrationshintergrund befassen. Eine | |
Ausnahme ist der [6][Berlin-Monitor 2019] der Universität Leipzig. Er zeigt | |
bei Deutschen mit Migrationshintergrund in Berlin signifikant höhere | |
Zustimmungsraten zu antisemitischen Sätzen mit Israelbezug. Noch höher | |
liegen diese bei jenen Migrant*Innen, die keine deutsche | |
Staatsangehörigkeit besitzen. | |
Für Deutsche ohne Migrationshintergrund ist, wenn sie nicht direkt dem | |
klassischen Antisemitismus zustimmen, der Post-Shoah-Antisemitismus oder | |
Schlussstrichantisemitismus zentral. Dieser wiederum findet sich weniger in | |
migrantischen Milieus. Haben wir es also, wie manche glauben machen wollen, | |
mit einem eingewanderten Antisemitismus zu tun? Das erscheint mehrfach zu | |
simpel zu sein. | |
Wo will man denn jene palästinensisch- und türkischstämmigen Jugendlichen | |
einordnen, die sich etwa vor der Synagoge in Gelsenkirchen versammelten? | |
Offenkundig waren sie Mitglieder der zweiten oder dritten Generation von | |
hier lebenden Menschen, die in Deutschland zur Schule gegangen sind und | |
hier eine Berufsausbildung gemacht haben. Damit ist klar: Was hier | |
schiefgelaufen ist, ist in Deutschland schiefgegangen und muss auch hier | |
behoben werden. | |
Und die Zahlen des [7][Berlin-Monitor]s zeigen auch Erfreuliches: | |
Migrant*Innen mit deutschem Pass neigen weniger zu antisemitischen Sätzen | |
mit Israelbezug als solche ohne deutschen Pass. Zugehörigkeit hat eine | |
positiven Effekt. Wir brauchen einen möglichst respektvollen Umgang | |
miteinander im Alltag, um die Auswirkungen der nahöstlichen Konfrontation | |
hierzulande zu begrenzen. | |
Auch eine verstärkte Aufklärung über die lange Geschichte des | |
Antisemitismus – und nicht nur über die kurze Geschichte des | |
Nationalsozialismus – tut not. Wer aber wie Laschet lieber auf die | |
vermeintliche fremde Herkunft dieses Antisemitismus hinweist, zeigt erneut | |
die Haltung, die wir schon im Fall Maaßen beobachten mussten. Das Problem | |
sind immer die anderen. Und wenn wir selbst das Problem sind, dann ist es | |
keins. | |
21 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Emotionale-Bundestagsdebatte-zu-Nahost/!5773521 | |
[2] /Antisemitismus-Vorwurf-gegen-Maassen/!5770985 | |
[3] https://report-antisemitism.de/ | |
[4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2020/05/vorstellung-pks… | |
[5] /Eskalation-im-Nahen-Osten/!5767353 | |
[6] https://berlin-monitor.de/berlin-monitor-2019/ | |
[7] https://berlin-monitor.de/der-berlin-monitor-2020/ | |
## AUTOREN | |
Uffa Jensen | |
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