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# taz.de -- Transformation statt Neubau: Die bestmögliche Stadt
> „Architektur passiert, wenn Menschen darin leben“, so Jean-Philippe
> Vassal. Gemeinsam mit Anne Lacaton hat er nun den Pritzker-Preis
> erhalten.
Bild: Zuhause für ein kleines Budget: das „Latapie House“ (1993) in Floirac
Eine endlose Linie am Horizont. Ein kreisrundes Dach aus Stroh, das den
Regen ableitet, ein „Gehege“ darum. Daneben ein überdachtes Quadrat mit 9
Stützen, aus dem man in die Landschaft blickt. Eine einfache Hütte auf
einer Düne in der Sahara in Niger, einem der ärmsten Länder Welt, in dem
die Menschen „fast alles aus nichts herstellen“, so Jean-Philippe Vassal.
[1][Man könnte es als „Projekt 0“ bezeichnen], was [2][das französische
Architektur-Duo Lacaton & Vassal] 1984 dort aufgestellt hat. „Die Suche
nach dem Ort dauerte sechs Monate, der Aufbau zwei Tage, der Wind brauchte
zwei Jahre, um es wieder zu zerstören.“
Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, der von 1980–85 in Niger als
Stadtplaner gearbeitet hatte, beschreiben die gemeinsame Zeit in Westafrika
als eine, in der sie alles Wesentliche für ihre Arbeit gelernt haben.
Improvisation, einfache Konstruktionen und die Erkenntnis, dass Architektur
mehr ist als ein Programm auf einem Baugrund.
Vassal, der seit 2012 an der Berliner Universität der Künste (UdK)
Entwerfen und Stadterneuerung lehrt, bezeichnet das Strohhaus als eines der
schönsten Projekte in ihrem gemeinsamen Werk, für das sie gerade [3][mit
dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet] wurden. Einem Preis, der
eine Architektur würdigt, die „einen bedeutenden Beitrag für die Menschheit
und die gebaute Umwelt darstellt“.
In letzter Zeit hatten sie vor allem durch Sanierungen und Umbau von sich
reden gemacht. In Bordeaux etwa [4][gestalteten sie 2017 drei große Blocks
mit 530 Sozialwohnungen aus den 1960er Jahren neu] und wurden dafür 2019
mit dem Mies van der Rohe Award ausgezeichnet.
Der Wohnraum in den drei Riegeln, 10 bis 15 Geschosse hoch und von
insgesamt 360 Metern Länge und knapp 10 Metern Tiefe, sollte größer und
heller werden und für die Gebäude eine weitere Lebenszeit von mindestens 50
Jahren gesichert werden. Dafür ersetzten sie die Lochfassade durch eine
Glasfront, der eine simple Konstruktion nach dem Prinzip Wintergarten
vorgestellt wurde.
[5][Eine klimatische Pufferzone, die im Sommer die Wohnfläche vergrößert
und im Winter Heizkosten spart.] Damit reagierten sie programmatisch auf
einen Plan der französischen Regierung, die 2004 beschloss, 200.000
Wohngebäude aus den 1960er und 70er Jahren abzureißen und durch Neubau zu
ersetzen. Ihr Wettbewerbsbeitrag setzte als einziger auf Erhalt – und
gewann.
## Ein Holzhaus im Glashaus
Zu dem Konzept der einfachen Konstruktion und der klimatischen Pufferzone
kamen sie schon mit ihrem ersten Auftrag. Für eine vierköpfige Familie mit
kleinem Budget entwarfen sie 1993 nach dem Vorbild üblicher Gewächshäuser
ein einfaches Glashaus, das um ein Holzhaus herum gebaut wurde, [6][die
„Maison Latapie“ in Floirac] – mit Material, das in jedem Baumarkt
erhältlich ist.
Mit dem Klima spielen, es nicht bekämpfen und mit weniger mehr erreichen:
weniger Dämmung, weniger Beton und verschwendete Ressourcen. Dafür mehr
Verbindung nach außen. Sonnenlicht im Winter, Schatten im Sommer. Lacaton &
Vassal haben in ihrer gemeinsame Laufbahn kein einziges Haus abreißen
lassen. Abriss begreifen sie als Akt der Gewalt. Genauso wie das Fällen von
Bäumen und unnötige Eingriffe in die Umwelt.
Damit würdigt der Pritzker-Preis auch eine Haltung, die sich der Abriss-
und Neubauwut entgegenstellt, wie [7][ihn etwa ein in Deutschland gerade
diskutierter „Energieeffizienz-Erlass“] für Bauten in öffentlicher Hand z…
Folge haben könnte, weil er nicht den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes
in den Blick nimmt, sondern lediglich die Verbrauchskosten im Betrieb.
„Wir glauben, wenn es um Energieeffizienz geht oder soziale Probleme, muss
man andere Antworten finden als Abriss. Für die Idee der Nachhaltigkeit ist
der Erhalt bestehender Bausubstanz zentral“, so Vassal im Interview.
„Transformation ermöglicht, auf Bedürfnisse wirtschaftlicher und besser
einzugehen. Auch, wenn die Wohnbedingungen in Hochhaussiedlungen manchmal
unbefriedigend sind, liegen in ihnen Qualitäten und ihr räumliches
Potential ist wertvoller Ausgangspunkt für eine radikale Verbesserung
unserer Wohnbedingungen.“
## Eine politische Frage
Partizipation ist auch ein entscheidendes Element seiner Lehre. Ob sich
auch Menschen mit geringeren Einkommen in Zukunft noch leisten können, in
Innenstädten zu wohnen – mit einer Lebensqualität, die ihnen Intimität und
Ruhe gibt –, ist für Vassal eine politische Frage.
„Das Material ist nicht entscheidend. Architektur muss sich der Situation
anpassen. Das eigentliche Material ist Raum, Luft, Licht und Bewegung.
Architektur passiert, wenn Menschen darin leben.“ Seinen Studenten
vermittelt er: „Kümmern Sie sich um Menschen, Gebäude, Bäume, Tiere, mit
Präzision, Freundlichkeit und Großzügigkeit. Es gibt keine Tabula rasa, wir
beginnen mit der ganzen Komplexität, dem Reichtum den Störungen und
Qualitäten der Stadt.“ Aus diesen Details entsteht eine Stadtentwicklung
von unten nach oben. „Denn all das zusammen bildet die Stadt.“
Coronabedingt findet der Unterricht in Berlin seit über einem Jahr nur
online statt. Dabei ist der Austausch von Ideen und Erkenntnissen zentral.
Und der Appell, absolut neugierig zu sein, sich Zeit zu nehmen. Was ist da?
Welche Leben werden dort gelebt? Welche Erinnerungen stecken bereits im
Bestehenden? Was wird gebraucht? Was könnte man tun? Sollte man Land
verschwenden? Für wen arbeite ich?
## Aus vermeintlichen Notwendigkeiten befreien
Berlin war ein Wunschziel Vassals und beeinflusste seine Entscheidung, noch
einmal einen Lehrauftrag anzunehmen. Die Stadt sei etwas Besonderes, „wegen
ihrer Geschichte, der Architektur der Moderne und der Fragen, die sich im
Hinblick auf Stadtentwicklung stellen“. Auch partizipative Prozesse haben
sich hier eingespielt.
„Und die Arbeiten der Studentinnen* sind unglaublich gut! Wir müssen darauf
vertrauen, dass eine junge Generation etwas an den eingefahrenen Wegen
ändert, sich aus rigiden Rahmen vermeintlicher Notwendigkeiten befreit.
Architekten können neue Möglichkeiten eröffnen, die sich an Wünschen,
Träumen und Erfahrungen orientieren.“
Beispielhaft für Berlin sei das „Ökohaus“, das [8][Frei Otto] im Rahmen d…
IBA 1987 von Architektinnen* in Zusammenarbeit mit zukünftigen
Bewohnerinnen* entwerfen lies – orientiert an den Preisen für den sozialen
Wohnungsbau. Mehr als 30 Familien fanden ein Zuhause in einem Neubau, für
den kein einziger Baum gefallen ist. Eine Strategie, die gerade im hoch
verdichteten Raum Großstadt Antworten auf die Frage bereithält, wie wir
heute zusammenleben können.
## Verpasste Chancen
„Wir reden oft von Partizipation, hier fand sie vom ersten Moment an statt.
Für mich war es das einzige Projekt der IBA, das nicht nur an die
Geschichte Berlins anknüpfte, sondern offen war für die Zukunft. Auch wenn
man es als etwas bourgeois kritisieren könnte.“ Ottos „Ökohaus“ inspiri…
Lacaton und Vassal zu weiteren partizipativen Projekten. Einen
Sozialwohnungskomplex in Mulhouse und den Bau der Fakultät für Architektur
in Nantes. Dafür übersetzten sie diese Prozesse in die heutige Zeit.
Über die Entwicklungen in Berlin zeigt sich Jean-Philippe Vassal enttäuscht
und verweist auf den Neubaukomplex nördlich des Hauptbahnhofs: „Die
Europacity ist ein Beispiel dafür, dass man 30 Jahre alten Masterplänen
folgt, obwohl Prognosen nicht eingetroffen sind. Eine verpasste Chance,
guten Wohnraum zu schaffen.
Die Menschen kamen einmal in diese Stadt, weil sie weltweit einzigartig
war, mit all dem Raum, dem Grün, seinem ‚urban jungle‘ – und nun sieht s…
immer mehr aus wie irgendeine Standardstadt. Die Europacity ist gebaute
Leere. Ohne Leben, ohne Identität. Man darf Stadtentwicklung nicht den
Investor*innen überlassen.“ Eine große Chance sieht er in der
Zusammenarbeit mit den Kommunen. „Damit ein Leben innerhalb der Stadt
bezahlbar bleibt und wir gemeinsam Stück für Stück die bestmögliche Stadt
gestalten.“
19 May 2021
## LINKS
[1] https://www.lacatonvassal.com/index.php?fky=15
[2] https://www.lacatonvassal.com/
[3] https://www.pritzkerprize.com/laureates/anne-lacaton-and-jean-philippe-vass…
[4] https://www.pritzkerprize.com/laureates/anne-lacaton-and-jean-philippe-vass…
[5] /Urbanitaet-in-der-Krise/!5682400
[6] https://www.pritzkerprize.com/laureates/anne-lacaton-and-jean-philippe-vass…
[7] /Recycling-von-Haeusern/!5761378
[8] /Architekt-Frei-Otto-gestorben/!5017160
## AUTOREN
Antonia Herrscher
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