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# taz.de -- Ramadan in der Coronapandemie: Vom Fasten in Krisenzeiten
> Wie begehen Gläubige inmitten einer Jahrhundertseuche den Ramadan?
> Eindrücke aus der Türkei, Indien, Tunesien und Deutschland.
Bild: Fastenbrechen im Ramadan vor der Blauen Moschee in Istanbul am 13. April
Als der Ruf des Muezzins um 19.37 Uhr am Dienstagabend ertönt, ist der
Platz im Zentrum Istanbuls wie leergefegt. Die Restaurants sind
geschlossen, die Wirte, die sich in normalen Zeiten hinter ihren dampfenden
Töpfen auf den Ansturm der Fastenbrecher wappnen, sind genauso zu Hause wie
alle anderen. Der Fastenmonat Ramadan steht dieses Jahr [1][zum zweiten Mal
im Zeichen von Corona].
Die Ramadanzelte, die normalerweise fast jede Kommune in der Türkei zur
kostenlosen Speisung für Bedürftige auf den zentralen Plätzen aufbaut, gibt
es nicht, nächtliche Feiern ebenso wenig. Die Mahlzeit am Ende des Tages,
wenn das um 5 Uhr mit Sonnenaufgang begonnene Fasten endet, darf nur im
engsten Familienkreis stattfinden.
Kurz vor dem ersten Fastenbrechen am Dienstag hat Präsident Erdoğan die
Bevölkerung in einen strengen Ramadan-Lockdown geschickt. Nun gilt eine
Ausgangssperre von 19 bis 5 Uhr. Da das Ende des Fastens erst nach 19 Uhr
stattfindet, werden die Ramadan-Brote, das ofenfrische Pide, bereits früher
verkauft als normalerweise. Reisen zwischen den Städten sind verboten. Und
an den Wochenenden gilt eine komplette Ausgangssperre.
Außerdem nutzt die Regierung den Ramadan, um die Restaurants und Cafés
wieder zu schließen. Das trifft vor allem die Säkularen, weil die Gläubigen
tagsüber sowieso nicht ins Café gehen würden. Die Maßnahme wird deshalb als
ideologisch kritisiert.
Dabei hätte die Schließung längst erfolgen müssen: Seit den Öffnungen
Anfang März [2][stiegen die Infektionen] von moderaten 10.000 auf 60.000
Neuinfektionen pro Tag. Das macht das Land zum traurigen Spitzenreiter in
Europa. Der [3][Hotspot ist wieder Istanbul], wo die 7-Tage-Inzidenz bei
800 liegt. Eine gute Nachricht ist, dass die Zahl der Todesfälle nur
moderat, auf rund 250 am Tag, angestiegen ist. Das liegt daran, dass
mittlerweile alle über 65-Jährigen zweimal geimpft sind und auch die über
60-Jährigen nahezu alle ihre Dosis bekommen haben.
Für den Tourismus, einen der wichtigsten Wirtschaftszweige, sind die
Infektionszahlen und die Gegenmaßnahmen eine Katastrophe. Wenn bei
Ramadanende am 12. Mai die Bayram-Ferien beginnen, käme normalerweise der
erste Ansturm auf die Hotels an der Ägäis- und Mittelmeerküste. Der wird
dieses Jahr ausfallen. Ob es im Sommer besser wird, ist fraglich.
Aus Istanbul, Jürgen Gottschlich
## In Indien fasten Gläubige trotz geschlossener Moscheen
Für eine kleinere Gruppe Muslime wie Khozema Hussein ist Mittwoch schon
der dritte Tag des Fastens. Er gehört zur muslimischen Gemeinschaft der
Dawoodi Bohra, die in Mumbai 200.000 Menschen zählt. Hossein ist Leiter
ihrer Gemeinschaftsküche im Stadtteil Bandra. Sie ist derzeit noch offen,
aber die Moschee nebenan schon geschlossen. Da die [4][Coronafälle in
Mumbai wieder stark gestiegen sind], mussten alle Gotteshäuser schließen.
Gekocht wird noch bis Ende der Woche.
Während des Ramadan beginnt Hosseins Arbeit später als sonst. Normalerweise
stehen die Männer ab 3 Uhr früh in der Küche, bis mittags wird
ausgeliefert. Jetzt kommt das Essen erst kurz vor Sonnenuntergang mit extra
Iftar-Speisen zum abendlichen Fastenbrechen. Tagsüber fasten auch
strenggläubige Bohra, sagt Hossein. Das ist bei Temperaturen von über 30
Grad nicht leicht, aber eine Frage der Gewohnheit.
In den umliegenden Gassen, in denen auch andere Muslime leben, haben
Händler:innen seit dem Nachmittag Mangos, Datteln und Granatäpfel
drapiert. In einem Laden wird süßes Fladenbrot mit Nüssen gebacken. Doch
das ändert nichts daran, dass im westindischen Maharashtra dieses Jahr
Ramadan in einen Lockdown fällt. Am Dienstagabend wurde verkündet, dass ab
Donnerstag ein neuer Lockdown zunächst für zwei Wochen gilt. Schon zuvor
mussten viele Geschäfte schließen, es galt eine Ausgangssperre ab 20 Uhr.
Die Bohra-Moschee war kaum mehr als zweieinhalb Monate offen, sagt Hussein.
Die meisten indischen Muslime sind Sunniten, für die am Dienstag der
Ramadan eigentlich mit dem Tarawih-Gebet in der Moschee begann. In Mumbai
fiel das aus.
Einige Geistliche und Gemeindevorsteher hatten vergeblich an Maharashtras
Regierung appelliert, Beschränkungen von Moscheen zu lockern und Einlass
unter Einhaltung eines Mindestabstands zu erlauben. Manche Muslime
wundern sich, warum der Lockdown erst nach dem lokalen Hindu-Neujahr (Gudhi
Padwa) am Dienstag und dem in Mumbai wichtigen Gedenktag des
Dalitvorkämpfers Bhimrao Ramji Ambedkar am Mittwoch beginnt.
Klar ist, dass in Mumbai die Fälle rasch ansteigen und die Krankenhäuser
schon überlastet sind. Imran, der in der Nachbarschaft wohnt, kann die
Unzufriedenen verstehen, aber auch die Politik. Es scheint Pech zu sein,
dass Ramadan jetzt bereits zum zweiten Mal in den Lockdown fällt.
Aus Mumbai, Natalie Mayroth
## In Tunesien fällt Ramadan in eine handfeste Krise
In Tunesien sind die Einschnitte in das tägliche Leben recht moderat. Nach
Beschwerden der Gewerkschaften und des Gastronomieverbandes hat
Premierminister Hichem Mechichi die erst letzte Woche auf 19 Uhr
vorverlegte Ausgangssperre wieder auf 22 Uhr geschoben. Nun können die
Restaurants nach dem abendlichen Fastenbrechen immerhin mit Kunden rechnen.
Doch die meisten Menschen werden dieses Jahre schon aus Kostengründen die
üppigen Iftar-Mahlzeiten im Kreise der Familie genießen. „Die
Familientreffen sind doch lauter Superspreading-Abende“, lacht Mohammed
Hamed in Tunis. Sein Café „Richelieu“ ist eines der wenigen Lokale in der
tunesischen Hauptstadt, in dem man während des Ramadan auch am Tage essen
und trinken kann.
Gesetzlich sei niemand zum Fasten verpflichtet, sagt Hamed. Die üblichen
Kampagnen von Islamisten gegen tagsüber offene Restaurants werden dieses
Jahr nicht erwartet. Die großen Fensterscheiben des „Richelieu“ waren in
den letzten Jahren mit Zeitungspapier verdeckt – dieses Jahr reichen
Werbeplanen vor der Terrasse. Doch wird am Eingang die Temperatur gemessen,
auf dem Weg zum Tisch gilt Maskenpflicht. „Der öffentliche Raum ist
sicherer als die Familientreffen“, so Hamed.
Aber wie passen Fasten, die Anti-Corona-Maßnahmen, eine handfeste sozialen
Krise, der Machtkampf zwischen den politischen Lagern im Land und die
jüngste Welle von Straßenprotesten zusammen? „Mal sehen, ob der kommende
Monat die Lage beruhigt oder eine Eskalation birgt“, sagt ein Redakteur der
staatlichen Nachrichtenagentur TAP (Tunis Afrique Presse).
Die Antwort erhielt er schneller als erwartet: Eine urplötzlich
auftauchende Spezialeinheit der Polizei drängte in den ersten Stunden des
Ramadan in das Gebäude, vor dem in den letzten Tagen Redakteure mit
handgemalten Plakaten gegen die Einsetzung ihres neuen Geschäftsführers
protestiert hatten. Die Mehrheit der TAP-Angestellten sehen in Kamel Ben
Younis einen Lobbyisten der Islamistenpartei Ennahda. Nach einem kurzen
Handgemenge und unter Beleidigungen verließ Younis sein Büro am Nachmittag
wieder. Die Nerven liegen zu Beginn des Fastenmonats blank.
An den Tischen des „Richelieu“ wird nur kurz über den Sturm auf die
TAP-Journalisten diskutiert. „Ich klinke mich für vier Wochen aus der Krise
aus“, sagt eine Studentin. „Für mich ist der Ramadan eine Pause von der
Politik.“
Aus Tunis, Mirco Keilberth
## In Deutschland verabredet sich die Autorin per Videocall
Früher hat meine Familie das Fasten zu Hause gebrochen, später haben wir
die Zusammenkunft mit Freunden und Familie in Restaurants verlegt – um auch
jene einzubeziehen, die nicht fasten. Denn der Ramadan steht vor allem für
Geselligkeit. Nicht umsonst heißt es zu dieser Zeit in Bosnien, dem
Heimatland meiner Eltern: „Bujrum nam dragi gost“, was übersetzt so viel
heißt wie „Willkommen bei uns, lieber Gast“.
In diesem Jahr sind die Restaurants in Deutschland wegen der Coronapandemie
geschlossen, deshalb findet das Fastenbrechen wie früher zu Hause statt.
Die Mahlzeiten nehmen wir oft über Videochat zusammen ein. Jene
Familienmitglieder, die nicht fasten, essen dann vor der Kamera eben ein
zweites Mal zu Abend. Während wir sonst alle seit Monaten in Jogginghosen
herumlaufen, haben wir jetzt endlich einen Grund, uns herauszuputzen. Meine
Mutter kramt ihre Perlen raus, mein Vater zieht ein Sakko an und meine
Großtante setzt ihre beste Perücke auf.
Auch meine Familie in Bosnien macht sich schick. Meine Großtanten schicken
in der Whatsapp-Gruppe der Familie Fotos ihrer bunt-glitzernden Kopftücher,
während sie auf dem Weg zum Abendgebet sind. In Bosnien öffnen die Moscheen
zumindest für verkürzte Gebete ihre Türen.
Zwar könnten meine Eltern und ich auch in Berlin für das Abendgebet in die
Moschee gehen. Stattdessen haben wir uns dagegen entschieden – und
verfolgen die Gebete nun im bosnischen Fernsehen oder über Livestreams auf
Youtube. Der Andrang ist während des Ramadan einfach zu groß, die
Ansammlungen während der Pandemie zu gefährlich.
Wer nicht fasten kann oder will, kann spenden. Dieses Jahr fließt wie schon
im Vorjahr Geld an Bedürftige, die besonders von Covid-19 betroffen sind –
sei es durch eine Erkrankung oder durch den Verlust der Arbeit. Denn beim
Ramadan geht es nicht nur darum, tagsüber auf Essen und Trinken zu
verzichten. Dieser Monat steht für Reflexion, spirituelles Wachstum,
[5][Gemeinschaft und Nächstenliebe].
Der gemeinsame Verzicht bringt uns in der Einsamkeit der Pandemie wieder
näher zusammen. „Während des Ramadan ist die Atmosphäre besonders“, sagt
meine Mutter. Dabei strahlt sie über das ganze Gesicht. Vielleicht war es
noch nie so einfach, sich selbst nach innen zu wenden, wenn im Außen so
wenig passiert wie jetzt gerade.
Aus Berlin, Atessa Bucalovic
14 Apr 2021
## LINKS
[1] /Ramadan-und-Corona-in-der-Tuerkei/!5687520
[2] /Coronavirus-in-der-Tuerkei/!5676070
[3] /Anruf-von-Onkel-Oemer-aus-der-Tuerkei/!5750077
[4] /Indien-in-der-zweiten-Coronawelle/!5760401
[5] /Fastenmonat-fuer-MuslimInnen/!5764945
## AUTOREN
Atessa Bucalovic
Jürgen Gottschlich
Natalie Mayroth
Mirco Keilberth
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