| # taz.de -- Ramadan im Schulalltag: Eiscreme kann warten | |
| > An einer Berliner Schule gehört der Ramadan zum Schulalltag. Anderswo | |
| > haben es muslimische Schüler*innen schwerer. | |
| Bild: Eifrig dabei: Schüler*innen einer siebten Klasse beim Islamunterricht in… | |
| Berlin taz | Seinen Tag beginnt Tarek um 3.30 Uhr. Während seine | |
| Klassenkamerad*innen noch schlafen, nimmt der 15-Jährige sein | |
| Frühstück ein. Etwa eine Stunde hat er dafür Zeit, erzählt er am Telefon, | |
| dann geht die Sonne auf – und der Fastentag beginnt. | |
| Bis zum 12. Mai dauert der Ramadan, in dem für Muslim*innen das Gebot | |
| gilt, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder zu essen noch zu trinken. | |
| Wie für viele andere Schüler*innen der George-Orwell-Schule im Berliner | |
| Bezirk Lichtenberg heißt das für den Neuntklässler: Schulalltag und Fasten | |
| miteinander zu verbinden. | |
| Tarek, der eigentlich anders heißt, hat darin schon Erfahrung. Bereits zum | |
| dritten Mal fastet er während des Ramadans von Sonnenaufgang bis | |
| Sonnenuntergang. „Eigentlich ändert sich am Schulalltag nicht viel, außer, | |
| dass man am Ende des Tages ein bisschen ausgepowert ist“, sagt er. | |
| „Ich gehe ja auch ganz normal mit meinen Freunden raus wie sonst auch“. Was | |
| sich jedoch verändert: dass er die Nacht über wach bleibt, wenn er wegen | |
| des Wechselunterrichts an bestimmten Tagen [1][zu Hause lernen] soll: | |
| „Heute zum Beispiel bin ich erst um 11 Uhr aufgestanden und habe dann meine | |
| Aufgaben gemacht.“ | |
| ## Schule für Körper und Seele | |
| Karim Moustafa vom Verband Muslimischer Lehrkräfte steht an jedem Tag im | |
| Ramadan früh auf: Nach Frühstück und Morgengebet beginnt er seinen | |
| Arbeitstag. „Die Kollegen dürfen sich dann nicht wundern, wenn sie schon um | |
| 5 Uhr morgens eine E-Mail bekommen“, sagt der Geschichts-, Politik- und | |
| Islamlehrer aus Nordrhein-Westfalen. | |
| Er findet es schade, dass die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft mit | |
| dem Ramadan häufig nur Verzicht auf Essen und Trinken verbindet. „Der | |
| Ramadan ist für Muslime eine Art Schule. Er lehrt uns, bewusster mit Körper | |
| und Seele umzugehen, gottbewusster zu leben“. Moustafa freut sich das ganze | |
| Jahr auf diesen Monat. | |
| „Gläubige fasten, um ihre Solidarität mit armen Menschen zu zeigen, sich in | |
| Geduld und Selbstdisziplin zu üben sowie [2][Dankbarkeit] über die Gaben | |
| beim Fastenbrechen zu spüren“, sagt der in Berlin praktizierende Imam Ender | |
| Cetin. Dennoch nehme der Ramadan einen geringeren Stellenwert ein als etwa | |
| das tägliche Gebet. „Fasten wird im Koran nur 11-mal erwähnt, Fasten im | |
| Ramadan sogar nur 4-mal“, so Cetin. „Beten hingegen über 80-mal, Lernen | |
| sogar über 200-mal“. | |
| Cetin beobachtet aber, dass der Ramadan für Jugendliche aus muslimischen | |
| Familien eine größere Rolle spielt als zum Beispiel das Gebet. „Das hat | |
| viel mit Fremdzuschreibungen zu tun. Ihr seid doch Muslime, ihr fastet | |
| doch.“ Bei den Jüngeren sehe er oft den Wunsch, es den Eltern gleichzutun. | |
| Er hält das Alter der religiösen Mündigkeit – 14 Jahre – für angemessen… | |
| den Ramadan körperlich durchstehen zu können. Kranke, Schwangere, | |
| Menstruierende, Reisende und Kinder sind vom Fasten, das die fünfte Säule | |
| im Islam darstellt, ausgenommen. | |
| ## Von Unwissenheit bis Diskriminierung | |
| An Tareks Berliner Schule sind viele Muslim*innen. Aber auch die übrigen | |
| Klassenkamerad*innen hätten den Ramadan auf dem Schirm, berichtet | |
| Tarek. „Die Mitschüler versuchen, so wenig wie möglich vor uns zu essen. | |
| Das ist nett von ihnen.“ Andere versuchten auch, mitzufasten. „Es ist | |
| schön, dass sie sich an unserer Religion beteiligen und verstehen wollen, | |
| warum wir das machen“, sagt der Fünfzehnjährige. Auch viele der | |
| Lehrer*innen seien aufmerksam. Zum Beispiel die Physiklehrerin, die mit | |
| der Klasse Eis herstellte – und den muslimischen Schüler*innen ihre | |
| Portion nach dem Ramadan mit nach Hause gab. | |
| Solche Erfahrungen machen längst nicht alle fastenden Schüler*innen. | |
| „Unwissenheit im Lehrer*innenkollegium ist das größte Problem“, | |
| findet Mehmet Ermayasi vom Netzwerk Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte | |
| in Nordrhein-Westfalen. „Wenn man potenziell muslimische Schüler*innen | |
| in der Klasse hat, sollte man wenigstens selbstständig googeln, was Ramadan | |
| ist und wann er beginnt“, fordert der Lehrer von seinen Kolleg*innen. | |
| Aber auch wer sich über den Ramadan informiert hat, handele nicht unbedingt | |
| sensibel, so Ermayasi. „Sich vor die Klasse zu stellen und zu fragen, wer | |
| fastet, ist irritierend, weil das schon in die Privatsphäre der | |
| Schüler*innen geht. Dann auch noch zu kommentieren, dass das ungesund | |
| sei – geht wirklich gar nicht, weil da mindestens unterschwellig eine | |
| Bewertung mit drinsteckt“, so Ermayasi. | |
| Ähnlich sieht es auch Karim Moustafa vom Verband Muslimischer Lehrkräfte: | |
| „Es bevormundet und unterstellt muslimischen Schüler*innen und | |
| Lehrer*innen, dass sie nicht selbst wissen, was gut für sie ist.“ Und | |
| Maryam Kamil Abdulsalam vom Aktionsbündnis muslimischer Frauen sagt: | |
| „Viele Schüler*innen berichten mir von einem ständigen | |
| Rechtfertigungsdruck für ihr Fasten.“ Dabei dürfe Schule eigentlich gar | |
| nicht eingreifen, weil das Fasten unter die Privatsphäre und | |
| Religionsfreiheit der Schüler*innen falle, so die Juristin: „Da müssen | |
| sich Lehrer*innen zurücknehmen.“ | |
| ## Schüler*innen machen Ramadan zum Thema | |
| Lehrer Ermayasi sieht gerade in Klassen mit mehrheitlich christlich | |
| sozialisierter Schüler*innenschaft die Gefahr, muslimische Kinder mit | |
| offensiven Fragen nach dem Fasten zu stigmatisieren. „Wir dürfen nicht | |
| vergessen, dass Muslim*innen eine verletzbare Minderheit in einer | |
| christlichen Dominanzkultur darstellen.“ Es gehöre zur Lebensrealität der | |
| Schüler*innen, ihren Alltag einfach weiterzumachen. | |
| Dem stimmt auch Tarek zu. Und dennoch ist in den Berliner Bezirken, wo | |
| viele Muslim*innen leben, einiges anders. „Der Ramadan gehört mit zur | |
| Schule in Neukölln – und das schon seit Jahren“, sagt Markus Pieper, der | |
| die dortige Schulaufsicht leitet. „Darauf muss man unbedingt eingehen und | |
| das wird in vielen Schulen ganz deutlich.“ Oft machten die Schüler*innen | |
| den Ramadan selbst zum Thema. | |
| Wann Nachfragen der Lehrer*innen zum Fasten der Schüler*innen | |
| grenzüberschreitend werden, hängt laut Pieper vom Vertrauensverhältnis | |
| zwischen Lehrkraft und Schüler*in ab. „Ich halte es aber schon für die | |
| pädagogische Verantwortung von Lehrkräften, dass sie darauf eingehen, wenn | |
| Schülerinnen und Schüler besondere Probleme haben und dann möglicherweise | |
| auch nachfragen, ob das Fasten ein Grund sein kann.“ | |
| Denn Auswirkungen auf den Schulunterricht habe der Ramadan allemal – zum | |
| Beispiel, wenn Schüler*innen übermüdet in die Schule kommen, weil sie am | |
| Vorabend lange mit der Familie wach waren, oder sich nur wenig | |
| konzentrieren können, weil sie nichts getrunken hätten. Imam Cetin | |
| berichtet von Kollegen, die strengere Lehrmeinungen vertreten, und davon | |
| überzeugt sind, dass Kinder schon mit sieben oder acht an das Fasten | |
| herangeführt werden sollten. Das stelle vor allem Grundschulen vor | |
| Probleme. | |
| ## Konflikte durch Religionsausübung selten | |
| Aber dass der Ramadan mit der Schulpflicht kollidiert, hat Markus Pieper | |
| von der Neuköllner Schulaufsicht noch nicht erlebt. Und auch sonst seien | |
| die Fälle, in denen durch eine besonders strenge Auslegung des Koran | |
| Konflikte zwischen Familien und Schule entstehen, selten. | |
| In Zusammenarbeit mit verschiedenen Neuköllner Moscheen haben das dortige | |
| Bezirksamt und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie | |
| Empfehlungen für die Schulen veröffentlicht. Ihr Ziel: die Vereinbarkeit | |
| von Schule und religiösen Pflichten für die Kinder und Jugendlichen zu | |
| verbessern. Zu den zwölf Punkten gehört der Grundsatz, dass das Fasten | |
| unterbrochen werden kann, wenn gesundheitliche Probleme auftreten, ebenso | |
| wie fastende Schüler*innen nicht zu diskriminieren. | |
| „Ramadan und Schule ist für alle Beteiligten jedes Jahr ein heikles Thema“, | |
| sagt Aliyeh Yegane von der Anlauf- und Fachstelle Diskriminierungsschutz an | |
| Schulen (ADAS). Viele Fälle von Diskriminierung werden nicht gemeldet und | |
| eher indirekt bekannt – auch, weil die Betroffenen aus Sorge vor | |
| schulischen Nachteilen vor einer Beschwerde zurückschrecken. Zum Beispiel | |
| wenn ein Sportlehrer den fastenden Schüler*innen sagt, dass er auf ihren | |
| Glauben keine Rücksicht nehmen könne. | |
| „Diese Haltung, dass muslimische Schüler*innen kein Entgegenkommen | |
| erwarten dürften, zeigen Lehrkräfte zum Teil offen“, sagt Yegane. Das liege | |
| auch daran, dass der Islam in weiten Teilen der Gesellschaft als | |
| rückständige Religion gesehen werde und deshalb auch nicht an allen Schulen | |
| willkommen sei. Häufig bezweifelten Lehrkräfte, dass Kinder aus freien | |
| Stücken fasten wollten. „Das zeigt, wie schnell viele bei Islam auch Zwang | |
| mitdenken.“ | |
| ## Institutionelle Diskriminierung | |
| Manchmal komme es auch zu institutioneller Diskriminierung. Wie im Fall | |
| einer weiterführenden Schule, die die Eltern zu Beginn des Ramadan in einem | |
| Brief informierte, dass das Fasten im Unterricht wegen des Kindeswohls | |
| nicht zu tolerieren sei. „Das kam einem Verbot gleich und das darf die | |
| Schule ja wegen des Verfassungsrechts auf Religionsfreiheit nicht ohne | |
| Weiteres und eigenständig aussprechen“, so Yegane. | |
| Später habe die Schulleitung nach Gesprächen mit Eltern und | |
| ADAS-Mitarbeiter*innen dies auch eingesehen. Juristin Kamil Abdulsalam | |
| berichtet von Fällen, bei denen Schüler*innen die in den Schulgesetzen | |
| verankerte Schulbefreiung am ersten Tag des Ramadanfestes verwehrt wurde – | |
| insbesondere wenn Klassenarbeiten geplant sind. „Für die Kinder ist das | |
| natürlich sehr traurig.“ | |
| Von Prüfungen an muslimischen Feiertagen hält Markus Pieper nichts. „Wir | |
| würden ja auch nie auf den Gedanken kommen, Klassenarbeiten auf christlich | |
| religiöse Feiertage zu legen.“ | |
| Für die Zukunft hofft Ermayasi, dass sich mit der | |
| Lehrer*innenausbildung auch die Realität an den Schulen verändert: | |
| „Diversitätssensibilität und Rassismuskritik gehören in die | |
| Lehrer*innenausbildung und dass Lehrkräfte für die Lebensrealität | |
| ihrer Schüler*innen sensibilisiert werden“, so Ermayasi. „Da besteht | |
| viel Nachholbedarf.“ | |
| 4 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
| Franziska Schindler | |
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