# taz.de -- Israel, Antisemitismus und der BDS: Immer wieder Gedächtnistheater | |
> Neulich erschien in der „Zeit“ ein viel diskutierter Text über die Frage, | |
> ob es israelbezogenen Antisemitismus gibt. Eine Replik. | |
Bild: Israel zu boykottieren gehört hier zum guten Ton – ungeachtet manch an… | |
In regelmäßigen Abständen erscheinen in deutschen Leitmedien Artikel, | |
Essays, Gedichte oder sonstige Aufrufe jüdischer Aktivist:innen aus | |
Berlin. Diese Texte hangeln sich immer wieder an den ewig gleichen | |
Schlagwörtern entlang und haben genauso einen festen Platz im deutschen | |
Gedächtnistheater wie die von ihnen kritisierten vermeintlich etablierten | |
Akteur:innen. | |
Keine dieser Aufforderungen kommt ohne eine Verteidigung der | |
antisemitischen BDS-Kampagne und ohne einen Seitenhieb auf die ach so | |
alarmistische Angsttreiberei der restlichen jüdischen Gemeinschaft der BRD | |
in Bezug auf Antisemitismus von linken und islamistischen Gruppen aus. | |
Schließlich kenne man diese Probleme aus dem diversen, bunten, friedlichen | |
Berlin innerhalb seiner internationalen Bubble so nicht. Wer aber ernsthaft | |
[1][wie Fabian Wolff neulich in der Zeit ] davon schreibt, dass es „Teil | |
der deutschen Seele“ sei, „Israel zu lieben“, der scheint mit sämtlichen | |
Studien zu (antisemitischen) Einstellungen in Deutschland genauso wenig | |
vertraut zu sein wie mit der Lebensrealität der meisten Juden:Jüdinnen | |
in diesem Land. | |
Für einige Kulturfeuilletonist:innen wie Wolff mag die Kritik | |
eigener Aussagen durch einen Titanic-Redakteur eine große traumatische | |
Demütigung sein. Für einen der Verfasser dieses Textes ist es eher die | |
Erinnerung an etliche Wochen der Schulzeit, in denen er seinen Schulweg | |
ändern musste, weil zwei frühere Freunde ihn als Juden und damit als | |
Vertreter Israels erkannt hatten und mit Ansage kaputt schlagen wollten. | |
Aber über das Empfinden anderer lässt sich bekanntlich nur schwer | |
diskutieren. | |
## Jüdische Repräsentation in Deutschland | |
Sich über jüdische Repräsentation in Deutschland aufzuregen ist wohl mehr | |
als gerechtfertigt, schließlich sind bis heute die [2][Stimmen der | |
eingewanderten Sowjetjuden:jüdinnen], anders als die der | |
„israelkritischen“ in sämtlichen Print- und Digitalformaten sowie Gremien | |
absolut unterrepräsentiert. | |
Wer aber wie Wolff den „frumen“ mehr Jüdischkeit als säkularen | |
Juden:Jüdinnen attestiert, „deren Jüdischsein nur aus Popkultur und | |
liberalen Phrasen“ bestehe, der vertritt hingegen ein Verständnis von | |
jüdischer Identität, das Jüdischkeit an der Bartlänge des huttragenden | |
Mannes am Brandenburger Tor beim öffentlichen Chanukkiazünden misst – | |
baruch hashem müssen wir unser Jüdischsein nicht durch ein zweifaches, | |
jiddisches „Gott sei dank“, Jewish name dropping oder eine vermeintliche | |
„Israelkritik“ erst der deutschen Leserschaft beweisen. | |
Wolffs Essay wurde vielfach positiv rezipiert: Igor Levit fühlt sich, | |
[3][„als sei ein Muskel, der jahrelang fest, hart und zu war, plötzlich | |
weich und auf und frei. Und ich weine.“] Dabei ist an diesem Artikel | |
wirklich nichts neu. | |
Verzückt sind so viele nur, weil es ein Jude ist, der dieses Mal sagt, „was | |
gesagt werden muss“. Wolff kritisiert etwa, dass viele Berichterstattungen | |
die BDS-Kampagne mit der Zuschreibung „antisemitisch“ versehen. Dass sich | |
BDS nur gegen den jüdischen Staat richte, ist eine der vielen | |
Unterschlagungen, die sich in Wolffs Verteidigung des israelbezogenen | |
Antisemitismus einreihen. | |
## Garantiert antisemitismusfreie Ikonen | |
So seien [4][Judith Butler], [5][Achille Mbembe] und sämtliche | |
Künstler:innen nur „missverstanden“ oder „verzerrt“ worden, eine | |
Diagnose, die auch gerne für garantiert antisemitismusfreie Ikonen wie | |
Martin Luther, Richard Wagner, die RAF oder Felix Blume (Kollegah) | |
ausgestellt wird. | |
So verblüfft es nicht, dass der Verweis Mbembes auf die jüdischen | |
Philosoph:innen, die ihn geprägt hätten, für Wolff ein ausreichendes Alibi | |
bedeutet: Er selbst baut doch in weiten Teilen auf der Argumentation des | |
durchschnittlichen deutschen Antisemiten auf, dass „einige meiner besten | |
Freunde Juden sind“, in seinem Fall sogar er selbst. | |
Es sind meist diese jüdischen Freund:innen, die Israel als | |
kolonialistisches Projekt bezeichnen, denn „meine Perspektive ist das | |
nicht“, wie Wolff sich schnell zu distanzieren weiß, aber wer wäre er denn, | |
würde er ihnen die Form ihres Jüdischseins diktieren wollen. | |
In seinem dichotomen Weltbild sind die abgecancelten BDS-Unterstützer:innen | |
auf einer Ebene mit den Liefers und Nuhrs dieses Landes – die unschuldigen | |
Opfer einer imaginierten Cancel Culture, während BDS-kritische Stimmen als | |
„vergiftende“, „herrische“ Zensor:innen auftreten würden. All diese | |
angeblich tabuisierten „kritischen Stimmen“ haben dann doch gemeinsam, dass | |
sie beruflich gefestigter und finanziell abgesicherter sind als der | |
Großteil der migrantisch-jüdischen Gemeinschaft, dessen Rentner:innen | |
bis heute nur von der Grundsicherung leben. So viel zu jüdischen | |
Lebensrealitäten. | |
## Die Guten und die Bösen | |
Ebenfalls sind in Wolffs Essay nur die „israelkritischen“ | |
Juden:Jüdinnen als „Jewish Left“ (als gäbe es keine | |
jüdisch-israelsolidarische Linke) die Guten, [6][alle anderen hingegen] die | |
„konservativ“ Bösen. Der von Wolff beschriebene deutsche Philosemitismus | |
teilt in „gute“ und „schlechte“ Juden:Jüdinnen ein. | |
Um für Philosemit:innen ein „guter Jude“ zu sein, wird von einem | |
solchen erwartet, Israel zu lieben. Genauso sollte es klar sein, dass in | |
anderen Spielarten des Antisemitismus Ähnliches mit getauschten Rollen | |
passiert: Die „guten Juden“ müssen für Antisemit:innen Israel | |
stattdessen kritisieren. | |
Als „israelkritischer“ Jude ist Wolff sich dessen spätestens seit der | |
positiven Rezeption seines zwölf (!) Seiten langen Essays in der Zeit | |
sicher bewusst. Wer sich aber tatsächlich um die vorhandenen Missstände in | |
Israel Sorgen macht, wüsste aus Gesprächen mit progressiven Kräften vor | |
Ort, und nicht aus dem Prenzlauer Berg, dass BDS in seiner regressiven Art | |
für alle Seiten mehr Schaden anrichtet, als es jemals einer | |
emanzipatorischen Absicht nutzen könnte. | |
Kurz nach den [7][antisemitischen Parolen auf der „revolutionären“ | |
1.-Mai-Demo in Berlin] meint also ein Berliner Jude, Antisemitismus fange | |
erst bei von Nazis ermordeten Jüdinnen:Juden an, alles andere bedrohe | |
einen selbst nun mal nicht, und erklärt, Antisemitismus sei nur eine Form | |
von Rassismus mit besonderen Spezifika – schlicht eine Falschbehauptung, | |
der sogar viele der Mitunterzeichner:innen der [8][„Initiative GG 5.3 | |
Weltoffenheit“] heftig widersprechen müssten. | |
## Lebenswichtige Handlung: Israelkritik | |
Dass die Unterzeichnung dieser Petition zu Wolffs „wichtigsten Handlungen | |
meines Lebens“ zählt, passt zur emotionalen Befriedigung, die im [9][Pathos | |
der „Israelkritik“] gefunden wird. Dass er damit mühsame Bildungsarbeit ein | |
weiteres Stück zurückwirft, scheint ihm im Zusammenhang mit der | |
Diffamierung von antisemitismuskritischen Organisationen wie der | |
Amadeu-Antonio-Stiftung egal zu sein. | |
Dass auch Juden:Jüdinnen antisemitische Aussagen und Weltbilder haben | |
können, die auch nicht erst bei der Shoahleugnung beginnen müssen, und | |
mitunter nichtjüdische Persönlichkeiten tatsächlich mehr theoretisches | |
Wissen über Judenhass haben können, als es Betroffene eben auch nicht qua | |
Betroffenheit haben müssen, widerspricht dennoch der identitätszentrierten | |
Ideologie Wolffs. Dazu zählt ebenso die Klassifizierung von | |
Juden:Jüdinnen als „Weiße“. | |
90 Prozent aller Juden:Jüdinnen in Deutschland sind nicht in Ostberlin | |
geboren, heißen Fabian (oder Moritz) oder sprechen mit Intellektuellen aus | |
der Upper West Side. Stattdessen wehren sie sich hierzulande nicht nur | |
gegen jeden Antisemitismus, sondern gleichzeitig gegen Rassismus. Das | |
jüdische Volk ist seit Jahrhunderten zur ewigen Anti-Nation gemacht worden, | |
zum abstrakten Dritten, welches sich nicht in den Kategorien | |
antirassistischer Theorien einordnen lässt – es ist nicht einfach „weiß�… | |
Wolffs „echte jüdische Werte“ sind mit Sicherheit divers und pluralistisch, | |
aber nicht jede Meinung einzelner Juden:Jüdinnen ist für sich | |
automatisch eine Bereicherung der tradierten jüdischen Streitkultur, | |
zumindest nicht, wenn sie Formen des Antisemitismus bagatellisiert und | |
relativiert. Darüber sollte eigentlich (besonders innerjüdisch) Konsens | |
bestehen. | |
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag erschien bereits Mitte Mai in der | |
gedruckten bzw. digitalen taz – unmittelbar vor der [10][neuerlichen | |
Eskalation in Nahost] und der daraus folgenden Debatte [11][über | |
Antisemitismus in Deutschland]. Aus diesem Grund bleiben die neuerlichen | |
Entwicklungen hier unerwähnt. Gleichwohl wollten wir auf eine | |
Veröffentlichung dieses Debattenbeitrags nicht verzichten. | |
26 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/kultur/2021-04/judentum-antisemitismus-deutschland-isra… | |
[2] /Juedische-Kontingentfluechtlinge/!5727852 | |
[3] https://twitter.com/igorpianist/status/1388795769109553159 | |
[4] /Schutz-menschlichen-Lebens/!5734268 | |
[5] /Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526 | |
[6] /Kuenstler-ueber-NS-Familiengeschichte/!5755176 | |
[7] /Queere-Palaestina-Solidaritaet-beim-1Mai/!5769339 | |
[8] /BDS-Beschluss-im-Bundestag/!5734301 | |
[9] /Linker-Antisemitismus/!5572949 | |
[10] /Kaempfe-zwischen-Hamas-und-Israel/!5772149 | |
[11] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5769807 | |
## AUTOREN | |
Yevgen Bruckmann | |
Moritz Meier | |
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