# taz.de -- Referentin über Antisemitismus: „Kritik nur an einem Staat“ | |
> Wencke Stegemann spricht in Kiel (und online) über die Übergänge von | |
> „Israel-Kritik“ zu Antisemitismus. | |
Bild: Nicht jeder Freund Palästinas ist Antisemit: Demonstration im Juni 2021 … | |
taz: Frau Stegemann, sprechen Menschen [1][über Israel] in einer Weise, wie | |
sie es über „die Juden“ nicht tun würden? | |
Wencke Stegemann: Zum Teil, ja. Es gibt Menschen, die einen Israelbezug | |
nutzen, um ihren Antisemitismus zu kanalisieren: in eine Form, die | |
gesellschaftlich vielleicht konformer ist. Wobei ich dann immer sage: Es | |
geht nicht darum, dass an einem Staat oder an einer Regierung nicht Kritik | |
geübt werden darf. Das sollten wir überall tun: an Deutschland, an China, | |
an Russland. | |
Aber? | |
Es geht darum, wie die Kritik geäußert wird. Und wenn das [2][mit | |
antisemitischen Stilmitteln] geschieht, dann ist klar, dass die Wurzel | |
Antisemitismus ist, der kanalisiert in eine gesellschaftlich weniger | |
geächtete Form. | |
Wenn das mit der Ächtung mal noch so stimmt. Sprechen viele Menschen nicht | |
wieder ziemlich unverblümt? | |
Ja, und das auch gar nicht nur über Jüdinnen und Juden. Ich würde sagen: | |
Das gesellschaftliche Klima hat sich in den letzten Jahren so entwickelt, | |
dass manche meinen, sich äußern zu können, [3][ohne Konsequenzen zu | |
fürchten] – auch über Geflüchtete oder Homosexuelle. Beispielsweise. | |
Wenn das knapp und doch seriös zu machen ist: Wie definieren Sie | |
israelbezogenen Antisemitismus? | |
Wenn wir Antisemitismus übersetzen, heißt das Judenfeindschaft, eine | |
feindliche Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden. Bloß wird Israel hier | |
quasi synonym mit ihnen gesetzt; der Staat Israel oder das Volk Israel, wie | |
auch immer man es nennen will, die Bevölkerung insgesamt wird als Kollektiv | |
betrachtet: Alle machen dasselbe und sind derselben Meinung; ein Kollektiv, | |
das als Ganzes agiert – und in der Regel nichts Gutes im Sinne hat, so die | |
Haltung. Es gibt dann auch noch spezifische Merkmale, die Schwierigkeit an | |
Antisemitismus insgesamt ist aber, dass seine Formen häufig | |
ineinandergreifen, sich bei einer Form von den anderen bedient wird, und | |
die Gruppen, die ihn praktizieren, sich überschneiden. | |
Kommt beim Israelbezug nicht eine Art beanspruchte Rationalität: „Ich hasse | |
nicht einfach stumpf, ich kritisiere differenziert“? | |
Wenn mir jemand begegnet, den ich vielleicht über einen längeren Zeitraum | |
kenne und der politisch sehr kritisch ist, und ich merke, dass diese | |
kritische politische Haltung sich [4][ausschließlich auf einen Staat | |
konzentriert], nämlich Israel – und über andere vermeintliche oder auch | |
tatsächliche Menschenrechtsverbrechen spricht er nicht, dann werde ich | |
schon mal fragen und nachbohren: Warum sprichst du immer nur über Israel? | |
Warum nie über China, Pakistan und so weiter? Was steckt dahinter? | |
Was steckt denn dahinter? | |
Es kann ja sein, dass dieser Person selbst das gar nicht bewusst ist. | |
Insgesamt ist es ja so, dass eine antisemitische Haltung, dass Vorurteile | |
oder Stereotype so tief verwurzelt sind in uns allen, überall auf der Welt, | |
in unseren Gesellschaften, dass wir das oft gar nicht wissen. Und dafür | |
sind ja Menschen wie ich da (und unsere Bildungsarbeit): Um darüber | |
aufzuklären, warum eine Aussage antisemitisch ist, die sich etwa | |
Vorurteilen bedient, die es schon im Mittelalter gab; dass da einfach alte | |
Bilder sozusagen erneuert werden. Und dann hofft man, dass beim Gegenüber | |
zumindest eine Offenheit besteht. | |
Ist dem Problem denn mit Bildung beizukommen? | |
Politik, Verwaltung und Justiz müssen sich auch dafür entscheiden, wenn | |
etwas passiert, konsequenter durchzugreifen. Also dass auch die | |
Gesetzeslage noch mal angeguckt wird, konkreter formuliert wird: Was ist | |
Antisemitismus? Ich würde sagen, Bildung allein schafft es nicht, aber sie | |
ist ein sehr wesentlicher Punkt. | |
9 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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