# taz.de -- Antisemitismus in der Nachbarschaft: „Sag nie, dass du Jude bist�… | |
> Jahrelang wird ein Mann von seinem Nachbarn antisemitisch beleidigt. Der | |
> Fall landet vor Gericht – wo das Verfahren nun sein Ende fand. | |
Bild: Aktion gegen Antisemitismus in Freiburg 2019 | |
Waren es die Hakenkreuze, die in den Lack seiner Autos gekratzt wurden? Der | |
Hitlergruß, die Beleidigung seiner Familie, oder die anonymen Drohbriefe? | |
Michael R. kann gar nicht mehr genau sagen, was für ihn und seine Familie | |
am schlimmsten war. Ganz offensichtlich ist aber, dass die | |
Diskriminierungen und Anfeindungen, die er erlebt hat, immer weiter | |
eskaliert sind. Am Schluss lag ein Fotos seines Hauses mit abgebrannten | |
Rändern und ein Streichholz in seinem Briefkasten, erzählt R., der seinen | |
Namen nicht öffentlich machen will. | |
Am Freitag hat das Amtsgericht seinen Fall gegen Zahlung einer Geldauflage | |
von 1.500 Euro eingestellt. Michael R. kann es nicht fassen. Er ist mit | |
seinen 1,90 Körpergröße eine stattliche Erscheinung. Seine Glatze, der | |
dunkle Bart und die Tattoos, die unter dem schwarzen Sweatshirt | |
hervorschauen, unterstreichen sein markantes Auftreten. Aber R. ist nervös, | |
oft antriebslos, sagt er. Die Anfeindungen und das Desinteresse von Polizei | |
und Justiz an seinem Fall hätten ihn fast depressiv gemacht. | |
Der 43-Jährige ist aschkenasischer Jude. Seine Großeltern hätten mit viel | |
Glück die Nazizeit überlebt, erzählt er. R. ist nicht besonders religiös, | |
aber er hat einen David-Stern auf seiner Brust tätowiert. Er habe sich nie | |
an den Rat seiner Großmutter gehalten, die ihm riet: „Sag nie, dass du Jude | |
bist“. Denn bisher habe er in seinem Leben keine Anfeindungen erlebt. | |
Bis 2013, als R. aus Freiburg ins benachbarte Teningen zieht. Er und seine | |
Familie stellen sich den Nachbarn vor. Nur Hanspeter B. fragt nach seiner | |
Herkunft. Michael R. sagt, er sei Jude. Die Antwort des Nachbarn, so | |
erzählt es R.: „Zu Hitlers Zeiten hättest du hier kein Haus gekauft“. | |
Später wird er noch sagen: „Vor 80 Jahren wären deine Familie und du ganz | |
wo anders gewesen“. | |
[1][3.027 antisemitische Straftaten] wurden im Jahr 2021 angezeigt. Die | |
meisten davon wurden anonym im Internet begangen, doch laut | |
Verfassungsschutzberichten häufen sich direkte Anfeindungen oder Anschläge. | |
R. sagt, nach seiner Erfahrung interessieren sich die Behörden nicht | |
wirklich für solche Fälle. | |
Er und sein Anwalt Thorsten Schulte-Günne erzählen von gemeinsamen Besuchen | |
bei der örtlichen Polizei, bei denen der Beamte behauptete, es sei nicht | |
strafbar, was der Nachbar getan habe. Als sich Michael R. nach vielen | |
Klagen einmal zum zuständigen Staatsanwalt durchstellen lässt, um zu | |
erfahren, warum er seine Anzeigen nicht weiter verfolgt, erklärt der ihm, | |
er stelle ja auch die Klagen des Nachbarn gegen ihn ein. | |
Michael R. hat die Konflikte in seinem Leben nicht immer gewaltfrei gelöst. | |
Er spricht offen von einer Bewährungsstrafe als Jugendlicher wegen | |
Körperverletzung. Danach habe er sich aber nichts mehr zu Schulden kommen | |
lassen, sagt er. Doch die dauernden Beleidigungen gegen ihn und seine Frau | |
bringen ihn aus der Fassung. | |
Sein Anwalt zeigt den Handyfilm, den Rs. Frau aufgenommen hat: Ein kleiner | |
Mann mit Schnurrbart und im Unterhemd wiederholt im badischen Dialekt noch | |
einmal die Beleidigungen von früher. Als er R.s Frau eine „Türkenschlampe“ | |
nennt, ohrfeigt R. den Nachbarn, sodass der zu Boden geht. R. muss sich | |
dafür vor Gericht verantworten. Er zahlt 900 Euro Strafe. | |
## Wegzug wegen Bedrohung | |
Auch danach gehen Bedrohungen und Beleidigungen weiter, bis R. und seine | |
Familie 2018 entkräftet wegziehen. Erst als sich sein Anwalt an die | |
Kriminalpolizei in Freiburg wendet, kommt Bewegung in die Sache. Die | |
Beamten eröffnen ein Verfahren wegen Volksverhetzung gegen den Nachbarn. | |
Sie weisen mittels Analyse der Fingerabdrücke nach, dass zweifelsfrei | |
Hanspeter B. hinter den [2][Drohbriefen] steckt. | |
Nun musste die Staatsanwaltschaft tätig werden. Aus dem ursprünglichen | |
Vorwurf der Volksverhetzung wird bei der Staatsanwaltschaft zwar nur noch | |
Beleidigung und Bedrohung. Aber es kommt endlich zur Anklage gegen | |
Hanspeter B. beim Amtsgericht Freiburg. Vier Verhandlungstermine setzt das | |
Gericht an, doch der Angeklagte reicht jedes Mal Atteste und Gutachten ein. | |
B. sei nicht verhandlungsfähig. | |
Für das Gericht ist es eins dieser Verfahren, bei denen es nichts zu | |
gewinnen gibt. Die Strafe ist mutmaßlich gering, der Aufwand mit dem | |
bockigen Angeklagten groß. Amtsgerichte haben hunderte Fälle von | |
Streitigkeiten, Stalking und Gewalttaten unter Nachbarn zu entscheiden. Und | |
offenbar ist eine Auseinandersetzung mit Hakenkreuzen und antisemitischen | |
Beleidigungen und Drohungen für die zuständige Richterin nichts anderes als | |
ein gewöhnlicher Nachbarschaftsstreit. | |
Im Schreiben vom 5.10.2022 jedenfalls teilt die Vorsitzende Richterin | |
Michael R's. Anwalt mit, dass es beabsichtigt, das Verfahren gegen | |
Hanspeter B. gegen eine Geldauflage zwischen 1.000 und 1.500 Euro | |
einzustellen. Da die Familie R. 2020 ohnehin weggezogen sei, seien keine | |
weiteren Konflikte zu erwarten. Am Freitag hat das Gericht nun so | |
entschieden. Auch Juristen können über die Entscheidung und die Begründung | |
nur mit dem Kopf schütteln. | |
Michael R. sagt, nach dem ersten Gerichtsbrief habe er tagelang nicht mehr | |
schlafen können. Er habe zeitweise Psychopharmaka nehmen müssen. Es gehe | |
ihm nicht ums Geld, beteuert R. Dass Hanspeter B. als frühpensionierter | |
Lagerist seine Kosten für Umzug und Anwälte nicht kompensieren kann, sei | |
ihm klar. R. geht es darum, dass die Taten spürbare Folgen für den | |
Angeklagten haben. Diese Chance ist jetzt vertan. | |
18 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Umfrage-zu-Antisemitismus/!5854050 | |
[2] /Rechte-Drohserie-NSU-20/!5892469 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Opfer rechter Gewalt | |
Judenverfolgung | |
Nachbarschaft | |
GNS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Antisemitismus | |
Antisemitismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Einschüchterungsversuch in Flensburg: Jüdische Gemeinde mit Bombe bedroht | |
Der Jüdischen Gemeinde Flensburg hat ein Unbekannter am Telefon mit einem | |
Anschlag gedroht. Stadtspitze verurteilt die Tat. | |
Referentin über Antisemitismus: „Kritik nur an einem Staat“ | |
Wencke Stegemann spricht in Kiel (und online) über die Übergänge von | |
„Israel-Kritik“ zu Antisemitismus. | |
Bericht zu Antisemitismus in Deutschland: Dammbruch Documenta | |
Mit der Kunstausstellung in Kassel erhielt Antisemitismus eine riesige | |
Bühne. Auch sonst frisst sich Judenhass wieder in die deutsche | |
Gesellschaft. |