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# taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: Antisemiten sind immer die Anderen
> „Nie wieder“ ist schnell gesagt. Doch wer Antisemitismus in seinen
> heutigen Ausprägungen benennt, provoziert ein altes Muster aus Abwehr.
Bild: Gedenken an die Pogromnacht, Hamburg am 9. November 2021
Als diese Woche [1][der Novemberpogrome gedacht wurde], daran also, wie vor
83 Jahren Synagogen brannten, jüdische Geschäfte geplündert und zerstört,
Jüdinnen und Juden getötet wurden und ihr Transport in Konzentrationslager
begann, hieß es kollektiv: Nie wieder.
Die Erinnerung an die Shoah ist in Deutschland vergleichsweise einfach.
Gedenktage, Stolpersteine putzen, andächtige Reden. Wer das Gedenken selbst
gestaltet, kann sich schließlich passend inszenieren: Man schämt sich für
das Vergangene und kann deshalb niemals wieder Antisemit sein. Sobald man
aber diesen ritualisierten Rahmen verlässt, es um lebende Jüdinnen und
Juden geht, um den Antisemitismus in seinen heutigen Ausprägungen, er aus
anderen Minderheitengruppen heraus artikuliert wird, wenn die Codes des
Antisemitismus nicht auf den ersten Blick erkennbar sind – dann wird es
schwieriger.
Über politische Lager hinweg ist Antisemitismus attraktiv. Ein gemeinsames
Feindbild hat sogar etwas verbindendes. Bei Rechtsextremen und Islamisten
finden sich große Überschneidungen. Aber auch in weniger radikalen
Strukturen finden sich Antisemiten: Unter Linken, in der Mitte der
Gesellschaft, bei stinknormalen Menschen.
In meiner Twitter-Timeline wurden die obligatorischen „Nie wieder“-Posts
nach einem Tag durch Videos abgelöst, die zeigten, wie propalästinensische
Demonstrant:innen am 9. November versuchten, die [2][israelische
Botschafterin] nach einer Veranstaltung an einer Londoner Universität zu
attackieren. „Shame on you“ und „Free Palastine“ riefen sie. Die Stimmu…
war aggressiv. Auf einem Instagramprofil rief jemand dazu auf, „ihre
Autofenster einzuschlagen“ und „das Gebäude zu stürmen“. Die Diplomatin
musste evakuiert werden. Aus der linken Ecke las ich unzählige
Relativierungen, manche befürworteten gar die Eskalation, das sei
schließlich legitime „Israelkritik“.
Es ist immer schwer, über Antisemitismus zu sprechen, besonders aber dann,
wenn er sich mehr implizit als explizit äußert. Benennt man das, provoziert
man ein altes Muster aus Verleugnung und Abwehr.
Nachdem der WDR die Journalistin und Ärztin Nemi El-Hassan zunächst
suspendiert und dann [3][die Zusammenarbeit mit ihr beendet hatte], weil
Recherchen ihre Teilnahme am antisemitischen Al-Quds-Marsch 2014 sowie das
Liken und Teilen problematischer Posts enthüllt hatten, äußerte sich
El-Hassan in einem Gastbeitrag [4][in der Berliner Zeitung].
El-Hassan argumentiert, wie auch zahlreiche ihrer Unterstützer:innen, die
Vorwürfe gegen sie seien nichts weiter als eine rassistische Kampagne. Das
ist eine altbekannte Trumpfkarte, die gerne gespielt wird, um
Antisemitismusvorwürfe zu entkräften. Qua Geburt werde El-Hassan im Land
der Täter zur Antisemitin gemacht, schreibt sie.
Es stimmt: El-Hassan wurde von Rassisten und Rechten attackiert. Das muss
vehement verurteilt werden. Dass aber auch Liberale, Linke oder
Konservative sie kritisierten, und zwar nicht für das, was sie ist, sondern
für das, was sie getan hat, blendet El-Hassan bewusst aus. Immer Opfer, nie
aber Täter. So einfach kann man es sich natürlich machen.
Erschreckend ist auch, wie El-Hassan ihre Position rechtfertigt: nämlich
mit ihren palästinensischen Wurzeln. Dabei sollte klar sein, dass
Sozialisation kein Persilschein ist. Der familiäre Hintergrund darf nicht
als Ausrede fungieren und schon gar nicht antisemitische Haltungen
entschuldigen.
Antisemiten sind immer die anderen. Das macht es schwer, über
Antisemitismus zu sprechen. Die eigene Position und Vorurteile, vererbte
Ansichten, das eigene Milieu, sich selbst also kritisch zu reflektieren,
ist hingegen mühselig. Ein „Nie wieder“ geht da einfacher über die Lippen.
13 Nov 2021
## LINKS
[1] /Essay-Novemberpogrome-von-1938/!5546893
[2] https://www.spiegel.de/ausland/tzipi-hotovely-aktivisten-vertreiben-israels…
[3] /WDR-und-El-Hassan-gehen-getrennte-Wege/!5809439
[4] https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/nemi-el-hassan-ich-weigere-mich-…
## AUTOREN
Erica Zingher
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