| # taz.de -- Islam in Deutschland: Schluss mit Lagerdenken | |
| > Statt Schwarz-Weiß-Denken soll es an dieser Stelle künftig um die | |
| > Zwischentöne gehen. Sie fehlen auch in der Debatte um Muezzin-Rufe in | |
| > Köln. | |
| Bild: 45 Moscheen in Köln dürften den Muezzin rufen lassen, wenn sie denn wol… | |
| Es gibt Dinge im Leben, die erfordern Eindeutigkeit. Ist man gegen | |
| Rechtsextremismus? Gegen Rassismus und Antisemitismus? Gegen | |
| Homofeindlichkeit? Für eine offene Gesellschaft? In diesen Momenten braucht | |
| es eine klare Haltung. | |
| Meist reicht das Leben aber darüber hinaus. Wenn es komplexer wird, ein | |
| dafür oder dagegen nicht mehr ausreicht, schaffen es politische | |
| Diskussionen immer häufiger nicht über das eigene Lagerdenken hinaus. Der | |
| Wunsch nach Eindeutigkeit, nach geordneten Verhältnissen bringt die | |
| Menschen dazu, sich geistig nicht mehr anzustrengen. Wer die Welt in | |
| Freunde und Feinde einteilt, muss sich nicht bemühen, Argumente, die nicht | |
| die eigenen sind, anzuhören, abzuwägen und auszuhalten. | |
| Es wäre sicherlich einfacher, wenn die Welt so funktionieren würde: schwarz | |
| oder weiß, Freund oder Feind, gut oder böse. Ich vermisse die Möglichkeit | |
| laut in Schattierungen denken zu können, ohne sofort vorgeworfen zu | |
| bekommen, man würde sich von der einen oder anderen Seite vereinnahmen | |
| lassen. Sich zu erlauben abzuwägen, ist nicht mehr möglich, wenn da der | |
| Druck ist, sich sofort einem bestimmten Lager zuzuordnen. | |
| Wer Schattierungen will, muss die Lager verlassen und sich in die Grauzone | |
| bewegen. Sie ist ein dialektischer Ort. Dort heißt es: einerseits, | |
| andererseits. Widersprüche werden dort benannt und nicht im nächsten Moment | |
| aufgelöst, sondern ausgehalten. Man lebt mit ihnen. | |
| ## Zwischen Untergang und Zeichen des Respekts | |
| Wenn es zum Beispiel um den Islam geht, zeigt sich, wie unbeweglich die | |
| Menschen geworden sind und wie selten sie sich noch in die Grauzone begeben | |
| wollen. | |
| Seit Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker angekündigt hat, dass in | |
| einem zweijährigen Pilotprojekt [1][Muezzinrufe von allen 45 Moscheen der | |
| Stadt] zugelassen werden, stehen sich Menschen gegenüber, die in dem | |
| Vorhaben nur den nächsten Schritt zum Untergang des Abendlands wittern | |
| oder, wie Reker selbst, die Erlaubnis zum Gebetsruf einzig als ein Zeichen | |
| des Respekts und der Vielfalt betrachten. Zwischen diesen beiden Positionen | |
| findet relativ wenig statt. Und das, was stattfindet, wird nicht gern | |
| gehört. | |
| Einerseits: Es gibt Muslim:innen, denen bedeutet der Gebetsruf etwas. Sie | |
| verbinden Positives damit: Er erinnert sie daran, mehrmals am Tag zum Gebet | |
| innezuhalten. Er mag für sie Symbol ihrer Religiosität sein. Man muss das | |
| als nicht religiöser Mensch nicht verstehen oder gutheißen. Doch | |
| selbstverständlich sollte es für alle möglich sein, das Grundrecht auf | |
| Religionsfreiheit – das auch die Freiheit von Religion bedeuten kann – | |
| auszuüben. Wer die Debatte allerdings für Hass und Hetze gegen | |
| Muslim:innen nutzt, hat das nicht verstanden. | |
| Andererseits: Rekers Begründung der „Vielfalt“ schloss sich auch Ditib an, | |
| der größte Moscheeverband Deutschlands mit Sitz in Köln. Die Entscheidung | |
| der Stadt reihe sich in eine Kette [2][„der gegenseitigen Toleranz und | |
| Akzeptanz“ ein]. Solche Aussagen von einem Verband zu lesen, der immer | |
| wieder mit homosexuellenfeindlichen und antisemitischen Aussagen auffällt | |
| und von der autokratischen türkischen Regierung gesteuert wird, ist an | |
| Heuchelei nicht zu übertreffen. Für diesen politischen Islam, der mit | |
| Vielfalt nichts zu tun hat, darf nirgendwo Platz sein. Besonders im Sinne | |
| derjenigen aus muslimischen Familien, die unter solchen Vorstellungen | |
| leiden. | |
| Nicht vergessen werden sollten deshalb die Menschen, in denen der | |
| Allahu-Akbar-Ruf Angst auslöst. In denen er negative Erinnerung an das | |
| weckt, wovor sie einmal geflohen sind. Diese Ängste brauchen einen Raum, | |
| ohne dass darauf der Vorwurf folgt, man schüre Hass. Vielleicht kann dieser | |
| Raum die Grauzone sein. Ein Raum, in dem Gedanken ohne Angst formuliert | |
| werden können. Ein Plädoyer für das Dazwischen. | |
| 16 Oct 2021 | |
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| [1] /Muezzinruf-in-Koeln/!5804413 | |
| [2] https://www.ditib.de/default.php?id=5&lang=de | |
| ## AUTOREN | |
| Erica Zingher | |
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