# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Deutschlands Hintergrundrauschen | |
> Scholz bleibt vage, was seine Position zur Ukraine betrifft. Den Luxus, | |
> Entscheidungen hinauszuzögern, muss man sich leisten können. | |
Bild: Flucht aus der Ukraine in Palanca an der Grenze Moldau-Ukraine | |
Halten Sie noch inne, wenn im Radio von Besetzungen ukrainischer Städte | |
durch russische Streitkräfte berichtet wird? Wenn es neue Erkenntnisse über | |
Filtrationslager gibt, über Kinder, die nach Russland verschleppt worden | |
sein sollen? Für die Meisten sind diese Nachrichten nach über drei Monaten | |
Krieg wahrscheinlich zu einem Hintergrundrauschen geworden, das sich leicht | |
ignorieren lässt. | |
Ich bin seit fast einer Woche in der Republik Moldau. Ich recherchiere hier | |
in der Hauptstadt Chișinău, war einige Tage in dem von Russland | |
unterstützen abtrünnigen Landesteil Transnistrien sowie in dem ebenfalls | |
mehrheitlich prorussischen autonomen Gebiet in der Republik namens | |
Gagausien. Hier in Moldau ist das Hintergrundrauschen in manchen Momenten | |
und an unterschiedlichen Orten so dröhnend laut, dass man es nur schwer | |
ignorieren kann. Dabei kennen die Menschen hier dieses Rauschen, das von | |
Zerstörung und Bedrohung durch Russland erzählt, nur zu gut. | |
Seit 30 Jahren sind auf dem östlichen Gebiet Moldaus in Transnistrien, das | |
sich 1992 gewaltsam und nur durch die Hilfe der russischen Armee de facto | |
abgespalten hat, russische Streitkräfte stationiert. Die | |
Einwohner*innen Moldaus gewöhnten sich an diesen Zustand, an das | |
Rauschen. Vollkommen sicher fühlten sie sich trotzdem nie. | |
Dass Deutschland nur schleppend schwere Waffen an die Ukraine liefert, wird | |
auch hier wahrgenommen. Denn das Überleben Moldaus, so sagt man hier, hängt | |
von dem Sieg der Ukrainer ab. Vor wenigen Wochen verkündete ein russischer | |
General, man wolle die vollständige Kontrolle über die Südukraine. Das | |
hieße: ein Landkorridor von Odessa bis nach Transnistrien. Er behauptete | |
auch, es gäbe „Fakten der Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung… | |
in Transnistrien. Mit dieser Lüge hat Russland schon einmal sein | |
militärisches Eingreifen legitimiert. Wer würde Putin davon abhalten, nicht | |
auch noch das gesamte Gebiet Moldaus einzunehmen? | |
Bundeskanzler Scholz hat kürzlich das Ziel des deutschen Engagements | |
formuliert: [1][„Russland darf nicht gewinnen], und die Ukraine darf nicht | |
verlieren.“ Bis heute ist nicht klar, was das bedeuten soll. Wird | |
Deutschland territoriale Zugeständnisse an Russland für ein Kriegsende | |
akzeptieren? Wie soll später mit Russland umgegangen werden? Wird das Land | |
zum Feind? Zum Partner? Und wie sehen die Sicherheitsgarantien aus, die man | |
der Ukraine zusichern will? | |
Antworten sucht man vergeblich, Scholz bleibt vage. Das muss man sich | |
leisten können. Umringt von Freunden bleibt der Krieg aus deutscher | |
Perspektive weit weg. Für die Ukraine besonders und auch für andere | |
osteuropäische Länder, die sich durch Russland bedroht sehen, rennt aber | |
die Zeit davon. Eine Gesprächspartnerin sagte mir in Chișinău: „Schön, da… | |
ihr euch so viel Zeit lasst mit euren Entscheidungen. Ihr sitzt schließlich | |
sicher in Deutschland. Aber was ist mit uns? Wir könnten die nächsten | |
sein.“ | |
Sich abwenden zu können, Entscheidungen hinauszuzögern, diesen Luxus muss | |
man sich leisten können. Aus der Ferne wirkt der deutsche Kurs, allen voran | |
der des Kanzlers, noch unbeholfener. Hier in Moldau wird aber auch die | |
Dringlichkeit, der Ukraine mit schweren Waffen zum Sieg zu verhelfen, | |
nachvollziehbarer. | |
Ich musste diese Woche öfter an die „unsichtbare Mauer“ denken, von der der | |
ukrainische [2][Präsident Selenski in seiner Rede vor dem Bundestag] | |
sprach. Er bat Scholz damals darum, diese Mauer einzureißen. Diese Mauer, | |
denke ich dieser Tage, droht unzerstörbar zu werden. Auf der anderen Seite | |
bleibt die Ukraine mit den anderen Ländern Osteuropas, die man im Westen so | |
lange zu vergessen wusste. | |
27 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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