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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Das Privileg, weiterleben zu können
> Viele Menschen interessieren sich nicht mehr für die Ereignisse in der
> Ukraine. Und begreifen nicht, was für eine Freiheit das ist.
Bild: Die Ukrainefahnen, die nach dem 24. Februar an viele Berliner Balkone geh…
„Der Krieg war am Anfang meines Lebens, ich erfahre ihn auch jetzt, an
dessen Ende“, sagte der Historiker und Shoa-Überlebende Boris Zabarko im
Mai bei einer Gedenkveranstaltung im KZ Dachau. Er sagte es auch diese
Woche an einem Abend in Berlin.
Eigentlich sollte Zabarko, Ukrainer und Jude, über das Erinnern in seinem
Heimatland sprechen. Darüber, wie er erst nach dem Zerfall der Sowjetunion
begann, in der Ukraine Zeugnisse anderer Überlebender zu sammeln und zu
publizieren; es sollte darum gehen, wie Zabarko selbst viele Jahrzehnte
seines Lebens nicht in der Lage war, über seine Erfahrung im Ghetto und als
Historiker über den Holocaust zu sprechen, weil die Shoa ein Tabuthema war
in der Sowjetunion. Die Vergangenheit, die war Thema des Abends. Aber wie
über das Vergangene sprechen, wenn die Gegenwart sie gerade so schmerzhaft
berührt?
Zabarko, geboren 1935, überlebte als Kind das Ghetto Schargorod in
Transnistrien. Von 1941 bis 1944 war dieses Gebiet rumänisches
Besatzungsgebiet unter deutschem Einfluss. Nun also, 77 Jahre nach
Kriegsende, fielen wieder Bomben, Putins Bomben, auf Kyjiw, auf eine
europäische Stadt, und Zabarko war gezwungen, ein paar Dinge
zusammenzupacken und [1][sein Zuhause zu verlassen]. Zerstörung, Bomben,
Hunger, Verbrechen. Der Tod geliebter Menschen. Für Menschen wie Zabarko
wiederholt sich hier ein Trauma. Der aktuelle Krieg sei die zweite
Katastrophe in seinem Leben, sagte er.
Man kann sich sehr theoretisch die Frage stellen, wie die Gewaltgeschichte
des 20. Jahrhunderts in Europa mit dem Krieg heute zusammenhängt. Man kann
versuchen, Bezüge herzustellen zwischen damals und heute. [2][Einige
Historiker tun das auch]. Putin legitimiert seinen Einmarsch damit, die
Ukraine „denazifizieren“ zu wollen. Er missbraucht das antifaschistische
Erbe der Sowjetunion, um einen Angriffskrieg zu führen. Geschichte
wiederholt sich zwar nicht. Aber natürlich hängen Damals und Heute
unweigerlich miteinander zusammen. Das wird an Menschen wie Zabarko
deutlich.
Zabarko erzählte von seiner Flucht aus Kyjiw im März. Davon, wie er es mit
seiner Nichte nach einer Station in Uschgorod bis nach Budapest schaffte,
dort von einem anderen Überlebenden aufgenommen wurde und am Ende im
Flieger nach Deutschland zu Verwandten saß und auch noch an Corona
erkrankte. Er erzählte auch von einem Moment des Glücks, als er über
Stunden im Gang in einem vollen Zug hinaus aus der ukrainischen Hauptstadt
stehen musste. Der Zug, sagte er, fuhr weg von den Bomben, er fuhr Richtung
Leben und nicht in den Tod.
Damals flohen Menschen vor den Nationalsozialisten. Heute fliehen
Shoa-Überlebende nach Deutschland. Ausgerechnet nach Deutschland. Ist das
überhaupt greifbar?
In Berlin ist jetzt Sommer. Die Ukrainefahnen, die nach dem 24. Februar an
viele Balkone gehängt wurden, sehen mitgenommen aus. Das Blau-Gelb verliert
seine Strahlkraft, und auch die anfängliche symbolische Solidarität lässt
langsam nach. Nach über 100 Tagen Krieg sind die Menschen, so nehme ich es
wahr, [3][müde geworden, sich weiterhin jeden Tag mit dem Leid der Ukrainer
zu beschäftigen]. Irgendwie muss man sein Leben ja weiterführen. Arbeiten
gehen, Freunde treffen, glücklich sein. Ich glaube, selbst nach dieser
Zäsur, die der Angriffskrieg für Europa bedeutete, haben noch immer viele
nicht verstanden, was für ein Privileg es ist, das tun zu können.
Auch wenn der Krieg irgendwann vorbei und die Ukraine frei sein wird, für
Zabarko wird das Leben danach noch härter, noch schwieriger werden, sagte
er. Ich kann diesen Satz nicht vergessen. Wird er jemals diese zweite
Katastrophe überwinden können?
11 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/erinnerung-juden…
[2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5852016
[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5855523
## AUTOREN
Erica Zingher
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