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# taz.de -- Missstände und Kommunikation: Plädoyer für die Wahrheit
> Der internationale Tag der Pressefreiheit hätte ein Anlass sein müssen,
> Missstände beim Namen zu nennen. Es braucht eine kommunikative Währung.
Bild: Journalisten aus Pakistan gedenken am 3. Mai 2021 getöteten Kolleg*innen
Am 3. Mai war World Press Day. An diesem Tag soll der [1][Presse- und
Meinungsfreiheit] gedacht werden. Quasi eine Meditation über Notwendiges
und Wichtiges. Daher die vielen Veranstaltungen. Am 9. Mai wurde der Mütter
gedacht. Am 12. Mai ist der „Tag der Pflege“ und am 10. Mai war – für mi…
der wichtigste aller Aktionstage – Monty Python Status Day. Falls Sie den
verpasst haben sollten, keine Sorge: Schon am 1. Juli ist weltweiter
Witzetag.
Womit wir den Kreis geschlossen hätten, denn der Tag der Pressefreiheit ist
ein Witz, in etwa so sinnig wie das [2][Fußballmatch der Philosophen]. (Zur
Erinnerung: Es spielte seinerzeit Deutschland gegen Griechenland und verlor
0:1 nach dem Tor von Sokrates.) Hieße dieser „Tag der Unfreiheit“, würde
sich zumindest ein Ausweg aus Absurdistan abzeichnen. Denn die Freiheit,
die beschworen wird, ist eine zarte Blüte unter Panzern und Paparazzi.
Es sei erinnert, dass mit Julian Assange ein Journalist, der
Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat, seit Jahren in Einzelhaft sitzt,
in der „ältesten Demokratie der Welt“, alias Großbritannien, das sich bald
in Kleinscherbien verwandeln wird.
Als ich neulich eine Veranstaltung von Medico International und dem
Ensemble Modern moderierte, bei der die brillante Komposition „[3][Assange
– Fragmente einer Unzeit“ von Iris ter Schiphorst] aufgeführt wurde, kam in
verschiedenen begleitenden Gesprächen zur Sprache, wie schlimm es um die
wohl wichtigste intellektuelle Freiheit bestellt ist. Nicht nur irgendwo
hinter der untergehenden Sonne, sondern hier, bei uns.
## Verschleiernde Begriffe für rassistische Politik
Während ein Teil unserer emanzipierten Öffentlichkeit sich den Mund
fusselig redet, ob etwa Immanuel Kant zitiert werden darf, wenn er das
„N-Wort“ verwendet, wird in einem Land wie Niger (ein Beispiel unter
vielen) schnell mal das Büro einer unabhängigen Publikation gestürmt und
Reporter werden ins Gefängnis geworfen. Niger ist „unser“ Verbündeter. Das
klingt im heutigen Neusprech so:
„Für seine Zusammenarbeit bei der Eindämmung illegaler Migration will
Deutschland den Niger […] im Kampf gegen Terrorismus unterstützen.“ So
meldete die Deutsche Presse-Agentur. Unzählige Artikel darüber und selten
ein Hinterfragen der Begriffe, die eine rassistische und inhumane Politik
verschleiern. Ganz abgesehen von der Frage, ob eine Waffe gegen den
Terrorismus sich nicht auch mal gegen Flüchtlinge richtet? Zitieren wir
doch gleich die Webseite des „Bundesministeriums für Verteidigung“, ob in
Afrika oder anderswo.
Unter der Rubrik „Friedenssicherung“ wird dort das Projekt „Ertüchtigung…
vorgestellt – Turnmutter Annegret Kramp-Karrenbauer und die Klimmzüge der
internationalen Zusammenarbeit – und zwar unter dem Motto „Mit Hilfe zur
Selbsthilfe zum Erfolg“. Oder: Wie wickelt man Sprache um den gekrümmten
Finger. Wie „Erfolg“ aussieht, erzählt die Journalistin [4][Franziska
Grillmeier]. Ihre Arbeit auf Lesbos wird täglich vielfältig eingeschränkt,
denn wie der Volksmund kundig unkt:
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Es ist mutigen und
unnachgiebigen Kolleginnen wie ihr zu verdanken, dass wir überhaupt noch
erfahren, wer an unseren Außengrenzen verreckt, im Schnee zelten muss oder
in Lagern innerhalb der EU „wie ein Tier behandelt“ wird. So „erfolgreich…
ist diese Abschottung, dass das, was in den Lagern passiert, teilweise nur
sichtbar wird, weil die Eingesperrten es dokumentieren.
## Sprachsondermüll amtlicher Verlautbarungen
Es ist für Bürokratien und Sicherheitsapparate um einiges einfacher, einen
Missstand zu verheimlichen als zu beseitigen. Wie kann es eigentlich sein,
dass sich Vertreterinnen von Politik und Staatsapparat in einer
repräsentativen Demokratie einer euphemistischen, realitätsfernen Sprache
bedienen, die George Orwell einem totalitären System eingeschrieben hat?
Weswegen stellt die Arbeit seriöser Medien die einzige Rettung vor dem
Sprachsondermüll amtlicher Verlautbarungen dar?
Wieso fordern wir nicht am 3. Mai und an jedem anderen Tag, dass die klare,
unverblümte Wahrheit als kommunikative Währung eingeführt wird? Strukturell
ähnlich ist das Problem mit der Informationsfreiheit in der Wirtschaft
gelagert. Die Journalistin und Theatermacherin Sylke Grunwald kann
stundenlang engagiert und bewegend berichten, wie schwierig es ist,
Vergehen und Verbrechen in Konzernen aufzudecken.
Denn entgegen den laminierten Selbstdarstellungen werden intern Hinweise
auf Missstände bevorzugt unterdrückt (BWL für Fortgeschrittene:
Totschweigen ist rentabler als Beheben). Eine Angestellte, die wegen
schwerwiegender Produktmängel Alarm schlägt, wird in der Folge ermahnt,
marginalisiert und schließlich kaltgestellt. So geschehen bei Nestlé in der
Schweiz, ein Beispiel unter vielen. Bis die betreffende Person gezwungen
ist, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Mit anderen Worten: Was wir als Gesellschaft über die schädlichen Praktiken
der Konzerne erfahren, ist nur die Spitze eines Eisbergs, der leider nicht
schmilzt. Es ist schockierend, welchen Repressalien Whistleblower in einer
angeblich freien Gesellschaft ausgesetzt sind. All das brauchte es nicht,
wenn wir eine demokratische Wirtschaft hätten, bei der Transparenz
vorherrschte, die nicht dem Profit, sondern dem Gemeinwohl diente.
Dann könnten sich die Medien auch mehr auf „positive“ Nachrichten, auf
„schöne“ Geschichten konzentrieren, anstatt – wie ihnen häufig vorgewor…
wird – Horrormeldungen zu verbreiten. Wer weniger Schlimmes lesen möchte,
muss sich die Frage gefallen lassen: Was tust du dafür, dass mehr Gutes in
die Welt kommt? Stattdessen erwarten die meisten von uns Aufklärung und
Reflexion und Unterhaltung von den Medien, während sie sich empört auf
ihrem Sofa flacken.
Und nachts skandieren sie im Albtraum ein verwirrendes Mantra: Dem Mangel
stopfen wir den Mund.
13 May 2021
## LINKS
[1] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2020
[2] https://www.youtube.com/watch?v=71l1KytVNcY
[3] https://www.ensemble-modern.com/de/aktuelles/2021-03-29/matinee-assange-fra…
[4] https://www.fr.de/panorama/lesbos-griechenland-journalistin-berichterstattu…
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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