# taz.de -- TV-Serie „The Good Fight“: Das Erdenken der Utopie | |
> Die TV-Serie „The Good Fight“ spielt im Anwältinnenmilieu. Was sie so | |
> wichtig macht, ist ihr Ausbrechen aus der Realität, hin zum Undenkbaren. | |
Bild: Szene aus der Serie „The Good Fight“ | |
Gerade läuft die fünfte Saison einer US-amerikanischen Fernsehserie namens | |
„The Good Fight“. Vier Staffeln lang prallten nach bewährtem Muster mehr | |
oder weniger interessante soziale Konflikte auf juristische Grauzonen, | |
verhandelt von einem diversen Rechtsanwältinnenteam. Die Serie war oft | |
spannend und gelegentlich informativ. [1][Dann kam die Pandemie], die | |
vierte Staffel brach abrupt ab und in einem „Making of“-Beitrag wurde | |
erläutert, wie schwer es ist, unter den aktuellen Bedingungen eine Serie zu | |
produzieren. | |
Nun geht es weiter, aber nicht wie gehabt. Denn unvermittelt und | |
überraschend taucht mitten in Chicago etwas auf, das bislang nicht einmal | |
in den Träumen der Figuren existierte: die Utopie. | |
Die staatlichen Gerichte arbeiten zwar wie gewohnt weiter, aber sie haben | |
Konkurrenz erhalten. Im Gerichtssaal 9 ¾ (Harry Potter lässt grüßen) | |
verhandelt ein verschmitzter Philosoph des Alternativen im Lagerraum eines | |
Copyshops Zivilrechtsfälle, weil es um das Recht im Lande wieder einmal | |
schlecht bestellt ist. | |
Dieser selbsternannte Richter verfügt allein über die Autorität seiner | |
Weisheit. Die streitenden Parteien einigen sich im Voraus darauf, sein | |
Urteil zu akzeptieren, und er stellt im Verfahren alles infrage, nicht nur | |
die Aussagen der Beteiligten, sondern auch die etablierten, | |
festgeschriebenen Regeln und Abläufe. Das ist lustig (um Vorurteile zu | |
neutralisieren, müssen die Zeugen in Vollkörperkostümen auftreten), | |
politisch erhellend (die Entlarvung mancher prozessualer Regeln als | |
antiquiert-hierarchisches Ritual) und zugleich zutiefst bewegend (im | |
doppelten Sinne des Wortes). | |
## Empathie nicht als hohle Phrase | |
Denn mit einem fantasievollen Strich durch die Faktizität der herrschenden | |
Verhältnisse wird die Fantasie befreit. Die Black Box des Denkens wird | |
gesprengt und auf einmal finden wir uns auf einem endlosen Spielfeld der | |
Möglichkeiten wieder. Und wenn der Richter nach seinem Urteilsspruch die | |
Streithähne auffordert, sich die Hand zu geben und zu sagen „Ich | |
respektiere und liebe Sie“, nicht beiläufig, nicht als hohle Phrase, | |
sondern mit ehrlicher Empathie, werden viele Zusehende ob der | |
vermeintlichen Sentimentalität die Augen verdrehen. | |
Das wäre unangebracht. Nicht nur, weil Versöhnung und Heilung (individuell | |
wie auch gesellschaftlich) tatsächlich das Ziel einer Konfliktlösung sein | |
sollten. In manchen vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften wurde bei | |
Vergehen nicht mit Strafe reagiert, sondern mit Zuneigung, aus der | |
Überzeugung heraus, der Mensch, der seinen Mitmenschen Schaden oder Leid | |
zufüge, sei nicht genug geliebt worden, habe nicht genug Zuspruch erhalten. | |
Aber auch, weil der konditionierte Mensch zum eigenen Schaden dazu neigt, | |
das Ungewohnte vorschnell als verrückt oder lächerlich abzutun und deswegen | |
ein Leben lang in seiner gewohnten Absurdität schmort. | |
Einige wenige Szenen einer durch und durch kommerziellen Serie reichen | |
erstaunlicherweise aus, um sich an den kurzen Frühling der Utopie im | |
letzten Jahr zu erinnern, als viele von uns, angeregt von einem veränderten | |
Alltag, sich grundsätzlichere Gedanken über unser Leben, Wirken und | |
Verbrauchen machten, Gedanken, die teilweise ins Utopische wucherten. | |
Das sollten wir uns unbedingt erhalten, denn das Erdenken alternativer | |
Zustände verbessert die Realität ungemein. Vielleicht ist Fantasie sogar | |
die beste problemlösende Kulturtechnik, die uns Menschen zur Verfügung | |
steht. Das scheinen wir vergessen zu haben. An Fantasie herrscht | |
gegenwärtig Mangel. | |
## Das Imaginieren der Zukunft | |
Das Was-ist dominiert über das Was-wäre. Fantasie wird kaum gefördert, | |
nicht in den Schulen, noch weniger an den Universitäten und im beruflichen | |
Alltag gar nicht. Wie der indische Aktivist Manish Jain einmal sagte: „Es | |
ist eines der Ziele moderner Ausbildung, die Fantasie der jungen Menschen | |
zu zerstören.“ | |
Wir beschäftigen uns ausgiebig mit Erinnerungskultur und vernachlässigen | |
das Imaginieren der Zukunft. [2][Unsere Fähigkeit, etwas anderes zu sehen | |
als nur das Bestehende, geht so dramatisch ein wie die Zahl der | |
Apfelsorten]. Die kapitalistische Kommodifizierung führt zu Uniformität, | |
nicht nur in unseren Fußgängerzonen, sondern auch in unseren Köpfen. Ein | |
Teufelskreislauf, denn je weniger Vielfalt wir um uns herum erfahren, desto | |
weniger können wir Visionäres erträumen. Was für eine schreckliche | |
Vorstellung, ein Leben lang ins Hier und Jetzt verbannt zu sein. | |
Das Utopische (oder Ausgefallene oder Abseitige oder Umgedrehte) benötigt | |
zudem öffentliche Wirkungsräume. Fantasie ist ein individueller Akt, der | |
nach Kommunikation strebt (wer wüsste das besser als ein Romancier?). Wo | |
sind sie, die Räume, in denen wir uns mit anderen Tagträumern und | |
Möglichkeitsdenkenden (also jene, die das, was ist, nicht wichtiger nehmen | |
als das, was nicht ist – so Robert Musil) austauschen können? Wo die | |
entsprechenden Radiosendungen, Zeitungsserien oder Webseiten? Stattdessen | |
überall eine deprimierende Hörigkeit gegenüber dem Tatsächlichen. | |
Was dazu führt, dass mangels Möglichkeitssinn auch unser Wirklichkeitssinn | |
verkümmert. Wir rezipieren grausige Erzählungen, die von Gewalt und | |
Erniedrigung handeln, ohne uns zu fragen, wie repräsentativ sie sind. | |
Positives hingegen tun wir als weltfremd ab. Wie [3][Richard Curtis], | |
Großmeister der Großen Gefühle auf Großer Leinwand, es einmal auf den Punkt | |
brachte: „Wenn man einen Film über einen Soldaten macht, der desertiert und | |
eine schwangere Krankenschwester ermordet – etwas, was wahrscheinlich nur | |
einmal in der Geschichte passiert ist –, nennt man das eine schonungslos | |
realistische Analyse der Gesellschaft. Wenn ich einen Film mache, in dem es | |
um Menschen geht, die sich verlieben, dann nennt man das eine sentimentale | |
Darstellung einer unrealistischen Welt.“ Womit wir wieder bei „The Good | |
Fight“ wären, einem hervorragenden Beispiel für utopischen Realismus. | |
28 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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